Migration:Menschlich, machbar

Gerald Knaus, der die Regierung beim Türkei-Deal beraten hat, liefert Lösungen für die Flüchtlingspolitik.

Von Thomas Kirchner

Warum dieses Buch? Gerald Knaus hat unzählige Interviews gegeben, Artikel geschrieben in deutschen und internationalen Medien, Newsletter seiner Denkfabrik "Europäische Stabilitätsinitiative" veröffentlicht, sich oft zu Wort gemeldet in sozialen Netzwerken. Wer sich mit Migration beschäftigt - und das Versagen der europäischen Politik in diesem Bereich verstehen will -, kennt den Österreicher. In diesem Buch verbindet er die Ansätze, die sich in seinen Beiträgen zeigen, zu einem Ganzen: zum Plädoyer für eine humane und gleichzeitig realistische Flüchtlings- und Asylpolitik, für "menschliche Grenzen" der Europäischen Union.

Wie lassen sich Knaus' Medienpräsenz und sein erheblicher Einfluss als Politikberater erklären? Nun, der Mann kennt sich aus wie wenige, er kann reden, verzichtet bewusst auf jede Schärfe im Ton und hat, hin- und herschwirrend zwischen Flüchtlingslagern, Ministerbüros und Redaktionen, ein beachtliches Netzwerk aufgebaut.

Wichtiger aber ist sein Standpunkt. Es existieren zwei Lager bei diesem Thema, die nicht zusammenfinden. Auf der einen Seite die Entscheider und Verwalter in den europäischen Hauptstädten und in Brüssel: Sie denken sich immer neue technokratische Reformen für das "Flüchtlingsproblem" aus, die dann in einen Morast aus politischem Taktieren und vorauseilender Angst vor rechtspopulistischen Wahlerfolgen geraten. Man kann diesen Morast bei jedem Treffen der europäischen Innenminister besichtigen. Oft fehlen den Entscheidern auch die praktische Erfahrung und die Empathie.

Über beides verfügen jene, die in Nichtregierungsorganisationen Migranten retten, betreuen oder für deren Rechte kämpfen, in der Regel zur Genüge. Was ihnen oft fehlt, ist ein Verständnis für das politisch Mögliche. Dies wiederum hat Gerald Knaus. Er kennt beide Seiten und entwickelt deshalb pragmatische Lösungen, die sowohl menschlich als auch machbar sind, die also das Recht auf Asyl schützen, auf Abschreckung durch schlechte Behandlung oder Grenzzäune verzichten - aber liberale Regierungen nicht umgehend die Macht kosten.

In diesem Geist ersann Knaus den vielfach missverstandenen Deal der EU mit der Türkei, der im März 2016 Realität wurde und dazu beitrug, dass die Zahl der auf den griechischen Inseln ankommenden Migranten schlagartig um mehr als 90 Prozent sank (und Angela Merkel im Amt blieb). Tausende waren auf der Überfahrt ertrunken, Hunderttausende nach Deutschland oder Schweden weitergezogen. Die Idee war, den Wahnsinn zu beenden, indem Flüchtlinge nach einem schnellen Asylverfahren in den sicheren Drittstaat Türkei zurückgeschickt würden, die dafür großzügige Hilfe erhielt.

Knaus rekapituliert die Geschichte und Intention dieses Abkommens, und es wird klar, was schieflief: Zum einen dauern die Verfahren in Griechenland noch viel zu lang. Und zum anderen vergaß die EU ihr Versprechen, im großen Stil Schutzsuchende aus türkischen Lagern direkt nach Europa zu fliegen.

Klar wird auch, wie menschenverachtend jene argumentierten, die wie Ungarns Premier Viktor Orbán das Problem mit Zäunen aus der Welt schaffen wollten. Dass es im Chaos-September 2015 eine echte Option für die Bundesregierung gegeben habe, die Migranten an der Grenze zu Österreich abzuwehren, ist ein Mythos. Knaus zertrümmert ihn - und andere mehr: das angeblich so ungerechte "Dublin"-Verfahren; die Vorstellung, dass mehr Grenzschützer automatisch weniger Asylanträge bedeuten; die Idee, dass Millionen Afrikaner vor den Toren Europas stehen.

Doch was ist nun Knaus' Plan? Es braucht schnelle, bessere Asylverfahren an den Außengrenzen, nach niederländischem oder schweizerischem Vorbild. Wer nicht bleiben darf, muss gehen. Und weil bisher wenige abgeschoben werden können, müssen dringend Vereinbarungen mit Transit- und Herkunftsländern geschlossen werden. Deren Regierungen kooperieren, wenn man sie ernst nimmt und ihnen etwas bietet: Visa für Studenten oder ähnliches. Hinzu kämen direkte Übernahmen von Schutzbedürftigen, etwa durch private Patenschaften. Europas Städte und Bürger stehen bereit. Was fehlt, ist der politische Wille.

Ob dieses Buch etwas bewirkt? Es ist viel gewonnen, wenn es alle lesen, die in der Migrationsdebatte mitreden und -denken möchten.

Gerald Knaus: Welche Grenzen brauchen wir? Zwischen Empathie und Angst - Flucht, Migration und die Zukunft von Asyl. Piper-Verlag, München 2020, 336 Seiten, 18 Euro.

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