"Milla meets Moses" in der SZ-Cinemathek:Seltsames Genre, starker Film

Film Milla Meets Moses

Grenzenlose Überbelichtung: Eliza Scanlen als Milla.

(Foto: Lisa Tomasetti)

Im Erfolgsgenre "Unheilbar kranke Jugendliche" legt Shannon Murphy einen anarchischen, besonderen Film vor: "Milla meets Moses".

Von Sofia Glasl

Eine Schermaschine für Pudel ist auch nur ein Rasierer, vor allem wenn das Ziel eine Glatze ist. Der Mittzwanziger Moses ist da pragmatisch und schneidet wohlgemut mit dem Werkzeug seiner Mutter drauflos. Die Schülerin Milla will ihren Pferdeschwanz loswerden, um Moses zu beeindrucken. Er weiß noch nicht, dass sie Krebs hatte und dieser Haarschnitt einem Rückfall und dem damit verbundenen Haarausfall zuvorkommt.

Für einen kurzen Moment jedoch ist diese Rasur ein Akt der Rebellion und eben keine Niederlage, auch wenn Milla danach eher aussieht wie ein gerupftes Huhn. Als ihr bewusst wird, dass sie gerade in das Haus seiner Eltern eingebrochen ist und eigentlich eine einstweilige Verfügung gegen ihren neuen Schwarm vorliegt, ist sie schockverliebt: Dieser zerlumpte Draufgänger ist ihr Ticket in die Freiheit, aus ihrem immer weiter schrumpfenden Leben zwischen Elternhaus und Hospital.

Der Krebs ist natürlich der Endgegner, funktioniert aber auch wie eine Lupe für alle Erlebnisse

Die australische Filmemacherin Shannon Murphy will mit ihrem bemerkenswerten Debüt "Milla and Moses" keine etablierten Muster bedienen, das macht sie schnell deutlich. Für unheilbar kranke Teenager gibt es eine Nische im Coming-of-Age-Film, die nur so vor schwülstigen Klischees strotzt, etwa in "Das Schicksal ist ein mieser Verräter" (2014) und "Midnight Sun - Alles für Dich" (2018). Bevor es womöglich zu spät ist, wollen sie das Lebens in sich aufsaugen - Drogen, Sex, Gefahr. All das gibt es hier auch, doch umschifft und konterkariert Murphy mit ihrem Gespür für zwischenmenschliche Verlegenheiten und Sprachlosigkeit jeden Kitsch.

Eine Streicherversion des Heroinwalzers "Golden Brown" flirrt über ihrer ersten Begegnung, und Moses wirkt tatsächlich wie eine Droge auf Milla. Er hat keine Angst vor dem Tod, darin liegt für sie die ultimative Anarchie. Und doch ist diese wundersame Romanze zwischen Milla und Moses eine merkwürdige Zweckgemeinschaft. Milla will ein kleines Stück der Freiheit abbekommen, die der obdachlose Drifter für sie verkörpert. Ob Moses wirklich etwas an ihr liegt oder ihr reiches Elternhaus voller Antidepressiva und anderer Medikamente für den Junkie nur eine Schatztruhe ist, bleibt lange offen. Wie ein schmutziger Streuner läuft er ihr zu, überrennt sie förmlich auf dem Bahnsteig, an dem sie sich zum ersten Mal begegnen.

Da ist kein Platz für Schmetterlinge im Bauch oder scheue Blicke: Moses wirft Milla nach dem ersten Aufprall zu Boden, zieht unvermittelt sein T-Shirt aus und drückt es auf ihr Gesicht, um ihr plötzliches Nasenbluten zu stoppen. Diese übergriffige und doch ungelenke Bewegung wirkt bedrohlich, aber in ihrer Unsicherheit und Hilfsbereitschaft auch rührend. Genau diese Gratwanderung zwischen lebensbejahendem Schmerz und unschuldiger Schönheit ist es, die Murphys Film von all den Coming-of-Age-Krebsdramen der letzten Jahre absetzt. Da ringen Teenager immer tapfer mit der Krankheit und um die erste Liebe, aber mit einer solchen Schicksalsergebenheit, dass freudige Ablenkungen und Hoffnungsschimmer nur wie notwendige Schlenker in der Handlungsführung wirken.

Die Geschichte rutscht nie ins Sozialdrama ab, sondern balanciert am Rande zum Irrwitz

Für Shannon Murphy hingegen ist Selbstmitleid keine gültige Größe. Der Krebs ist zwar immer da, aber weder Milla noch Moses behandeln ihn als den Endgegner, der er letztendlich sein muss. Vielmehr fungiert er als Lupe für alle Beziehungen, Entscheidungen und Erlebnisse. Dieses Vergrößerungsglas kann wie bei den Pfadfindern auch dazu dienen, ein Feuer anzufachen. Wo Moses die Drogen nutzt, um mit der Geschwindigkeit des Lebens Schritt halten zu können, klinken sich Millas Eltern damit aus: Der Vater ist Psychiater und medikamentiert nicht nur die Mutter so stark, dass die einstige Pianistin nicht mehr spielen mag, sondern betäubt auch den eigenen Schmerz mit Morphium.

Murphy rutscht mit diesen emotionalen Nahaufnahmen nie ins Sozialdrama ab, sondern balanciert immer am Rande zum Irrwitz, dessen sich die Familie selbst bewusst ist. Als Moses das erste Mal zum Abendessen in der Familienvilla zu Gast ist, wird ihrer von Tranquilizern benebelten Mutter plötzlich bewusst, dass ein zweiter Junkie mit am Tisch sitzt. Sie kann diese Absurdität nur noch mit einem unkontrollierten Lachanfall kommentieren. Statt ihre Figuren auszuschlachten, lässt Murphy sie ohne Gefühlsduselei zwischen Verletzlichkeit, Selbstbeherrschung und liebenswerter Unbeholfenheit taumeln. "Milla Meets Moses" erinnert deshalb jenseits der weichgespülten Treueschwüre und Liebesbekundungen dieses sonderbaren Genres eher an den Geist von Andrea Arnolds "American Honey", gibt sich dem Flow des Daseins mit allem Schmerz und aller Schönheit einfach hin.

Millas Synapsen schlagen irgendwann vor lauter Leben regelrecht Funken, die sich auf der Leinwand in Feldern aus Licht einbrennen und einen bitzelnden Klangteppich ausbreiten, wenn sie auf einer Party zu weichen Elektroklängen in Videoprojektionen eines Feuerwerks tanzt oder die Harmoniestrudel und Streicherrhythmen von Sudan Archives' "Come Meh Way" ihre Freude an der Musik in einem selbstvergessenen Ausdruckstanz wiederbeleben.

Wo die Mutter den Bezug zur Musik und zum Dasein verloren hat, stellt Milla eine neue Verbindung her. Drogenrausch und Lebensfreude fließen dann einfach ineinander, und der Song "Golden Brown" und sonnengoldene Strandtage sind plötzlich kein Gegensatz mehr, sondern nur zwei Seiten einer grenzenlosen Überbelichtung. Erstaunlicherweise verklärt dieses Zuviel ihre Situation nicht, sondern verleiht ihr eine überwältigende Direktheit und Ehrlichkeit.

Milla Meets Moses, Australien, USA 2019 - Regie: Shannon Murphy, Buch: Rita Kalnejais nach ihrem eigenen Theaterstück. Mit: Eliza Scanlen, Toby Wallace, Ben Mendelsohn, Essie Davis. X Verleih, 118 Minuten.

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