Sexuelle Gewalt im Sport:Tatort Trainingshalle

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Immer wieder kommt es im Sport zu sexueller Gewalt. Wie hoch die Zahl der Betroffenen ist, ist noch lange nicht aufgearbeitet.

(Foto: Panthermedia/imago images)

Experten vermuten eine hohe Anzahl sexueller Missbräuche im Sport: Im Rahmen einer Untersuchung schilderten Betroffene nun ihre Erlebnisse. Doch wie genau wollen Vereine und Verbände wirklich Aufarbeitung leisten?

Von Saskia Aleythe

Jeden Samstag ist etwas passiert. Samstags war Judo-Training. Als sie 13 Jahre alt war, bekam Marie Dinkel zusammen mit zwei anderen Mädchen aus ihrem Verein Extra-Stunden von einem Trainer. "Wenn dieser Mann uns beim Training am Boden festgehalten hat, konnten wir nichts mehr machen", sagt Dinkel, "erst hat er außen an der Hose angefasst, dann in der Hose." In der Umkleide haben die Mädchen begonnen, sich gegenseitig die Gürtel so festzuziehen, dass sie kaum noch Luft bekamen. Schon mit sechs Jahren kam Dinkel zu dem Verein in Hessen, schon da begann ihre Liebe zum Sport.

Sieben Millionen Kinder und Jugendliche sind in Sportvereinen angemeldet, Erfahrungen wie Dinkel haben viele gemacht. Wie viele, das ist noch längst nicht erschlossen. Bei einer unabhängigen Aufarbeitungskommission haben sich nach einem Aufruf seit Mai 2019 93 aktive oder ehemalige Sportler und Sportlerinnen gemeldet, die sexualisierte Gewalt erfahren haben, von anzüglichen Bemerkungen bis hin zu Vergewaltigungen. Dinkel ist eine davon, die am Dienstag in Berlin ihre Geschichte bei einer Veranstaltung der Kommission erzählt hat.

"Es ist jetzt Zeit für den Sport, Verantwortung für Aufarbeitung zu übernehmen", sagt die Kommissions-Vorsitzende Sabine Andresen, denn eines will man nicht aufkommen lassen: Den Eindruck, es würde sich bei allen Taten um Einzelfälle handeln. In den Gesprächen habe sich schnell der Eindruck verfestigt: "Bisher gibt es im Sport keine Kultur des Sprechens und Zuhörens."

Zwischen den Worten hängt während der Veranstaltung allerdings die Frage im Raum: Wie sehr will der deutsche Sport das überhaupt: ans Licht bringen, was sich bis heute zwischen Gymnastikmatten und Geräteräumen abspielt?

Bei Dinkel war der Tatort die Trainingshalle, Übergriffe passieren oft auch in Umkleiden und Duschen. Auf Autofahrten zu Wettkämpfen oder bei Übernachtungen im Trainingslager. Ihren Eltern hat Dinkel damals erst nichts erzählt. Auch die anderen Mädchen schwiegen. "Wir dachten ja, das hat irgendeinen Grund, dass uns das passiert. Wir müssen irgendwas angestellt haben, und das ist jetzt die Strafe", sagt Dinkel, 24. Was der Trainer sagt, wird gemacht; es ist ein gelebtes Prinzip im Sport.

Ein Junge berichtet, er sei immer zum Saisonstart vom Trainer vermessen worden. Auch am Penis, jedes Jahr. Der Sport ist geprägt von Nähe, Vertrauen und Abhängigkeitsstrukturen. "Ein solches Umfeld ist anfällig für das Ausnutzen von Macht durch Erwachsene", sagt Bettina Rulofs von der Bergischen Universität Wuppertal, die schon länger in dem Bereich forscht. In einem Forschungsprojekt von 2016 hatten 37 Prozent der deutschen Kaderathleten angegeben, schon mal sexualisierte Gewalt erfahren zu haben. Nur 49 Prozent der Vereine gab an, das Thema für relevant zu halten.

Eine Haltung, die sich zumindest die Jugendverbände nicht mehr leisten können: Seit 2019 ist die Vergabe von Fördergeldern an Präventionskonzepte gekoppelt. Die Deutsche Sportjugend, die am Deutschen Olympischen Sportbund (DOSB) angedockt ist, hat ein Stufenmodell entwickelt, das schrittweise umgesetzt werden muss. Es geht darum, sich in Verbandssatzungen gegen sexuellen Missbrauch auszusprechen, Ansprechpartner zu benennen, Trainer und Übungsleiter schulen zu lassen und das Unterschreiben eines Ehrenkodexes verpflichtend zu machen; auch könnte das Abgeben von Selbstverpflichtungserklärungen bei der Vergabe von Lizenzen eine Rolle spielen. Es ist ein wichtiger Beitrag zur Prävention, aber eine Kontrolle der Umsetzung gibt es nicht. Um einen Kulturwandel anzustoßen, sei zudem eine Aufarbeitung zurückliegender Fälle entscheidend, die konfrontiere "den Sport auch mit Fragen des eigenen Versagens", sagt die Kommissions-Vorsitzende Andresen. "Solche Fragen sind deutlich unbequemer." Und die werden bisher kaum gestellt. "Nach meinen Beobachtungen stehen die deutschen Sportverbände hier noch am Anfang", im Spitzen- wie im Breitensport.

Judoka Dinkel wusste nicht, an wen sie sich damals wenden sollte, "mir wurde auch niemand empfohlen". Dass sich Teenager selber beim Landessportbund melden oder einem übergeordneten Verband, ist realitätsfern. "Niemand ruft einen 60-jährigen Ombudsmann an", sagt eine Betroffene aus dem Publikum. Aus den Erfahrungsberichten wird deutlich, dass in den Vereinen sexueller Missbrauch ein riesiges Tabu ist, dass Kindern oft nicht geglaubt wird. Auch von den eigenen Eltern nicht, die selber oft freundschaftliche Verhältnisse zu Trainern pflegen. Zudem würde das Ehrenamt oft verklärt. Viele Erwachsene leisten viele Stunden unbezahlte Arbeit. "Da erscheint es fast unmöglich, jemanden zu kritisieren, der so viel für den Sportverein leistet", sagt Sportsoziologin Rulofs. Das Einfordern eines erweiterten polizeilichen Führungszeugnisses ist für die Vereine eine bürokratische Hürde.

DOSB-Vizepräsidentin Tzschoppe bittet um Entschuldigung

Dinkel hat ihren Eltern nach drei Monaten doch von den Vorfällen erzählt. Der Mann flog aus dem Verein, das Strafverfahren wurde gegen eine Geldzahlung eingestellt. Mit 18 Jahren erfuhr Dinkel, dass der Täter weiter an einer Schule aktiv war. "Da fing es an mit den Panikattacken", erzählt sie. Diagnose: posttraumatische Belastungsstörung, auch Selbstverletzungen kamen dazu. Dem Sport ist sie trotz allem treu geblieben, hat sich sogar zur Trainerin ausbilden lassen. Sexueller Missbrauch sei dabei auch thematisiert worden, "es ging aber eher darum, aufzupassen, dass man nicht aus Versehen angeklagt wird".

Obwohl sie offen mit ihren Erfahrungen umging, traf sie auch bei den Trainerkollegen nicht nur auf Verständnis. "Einmal hielt ich beim Bodenkampf einen Kollegen im Haltegriff fest, da sagte er: Die Position gefällt mir sehr gut, aber nicht auf der Judo-Matte ..." Dinkels Erlebnisse zeigen, wie tief das Problem gesellschaftlich verankert ist; eine andere Betroffene macht deutlich, dass sich nach dem Sammeln der Erfahrungsberichte nun etwas tun müsse: Sie hatte schon früher über ihren Missbrauch berichtet, auch der DOSB habe davon gewusst. "Das ist zwei Jahre her, bisher ist niemand mehr an mich herangetreten."

Ein Zeichen aus dem Spitzensport sendete am Dienstag Petra Tzschoppe. Die Vize-Präsidentin des DOSB bat im Namen des organisierten Sports um Entschuldigung bei allen Betroffenen, "für das Leid, das ihnen widerfahren ist". Zudem werde der DOSB wieder in den Fonds sexueller Missbrauch einzahlen, was er bis 2016 schon mal getan hatte, um Sachleistungen wie Therapien zu bezahlen. "Eine Entscheidung, die wirklich nötig und fällig war", sagte Andresen. Forscherin Rulofs gab einen Anstoß, der sich aus dem Wunsch der Betroffenen ableiten ließ: "Es gibt eine Nationale Antidopingagentur, die für einen sauberen Sport eintritt", so Rulofs, "wo ist eigentlich die nationale Agentur, die für einen sicheren und gewaltfreien Sport eintritt? Die unabhängig vom DOSB und den Verbänden ist? Da müssen wir hin." Doch davon ist man noch sehr weit entfernt.

Marie Dinkel arbeitet heute als Physiotherapeutin in der Schweiz, zum Judo war sie eigentlich erst durch ihren Vater gekommen: "Für ihn war es wichtig, dass man sich als junges Mädchen selbst verteidigen kann."

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