Maxvorstadt:Vergessene Komponistinnen

Lili Boulangers kurzes Leben, so stellen wir uns es gerade in diesen Tagen vor, muss eine Art immerwährender Corona-Lockdown gewesen sein. Mit drei Jahren erkrankt die Pariserin an einer chronischen Lungenentzündung, die sie dazu zwingt, ihre Sozialkontakte möglichst überschaubar zu halten. Was gar nicht so leicht ist, denn bei den Boulangers geht alles ein und aus, was im französischen Musikleben des Fin de Siècle Rang und Namen hat. Lili wächst in einer hypermusikalischen Familie auf, Vater und Großvater sind renommierte Komponisten, die Mutter, eine russische Prinzessin, Sängerin, und die ältere Schwester Nadia wird eines Tages als Pianistin, Organistin, Komponistin und Dirigentin zu Weltruhm gelangen - und ihr wird ein langes Leben von 90 Jahren beschieden sein. Anders Lili, die in die 24 Jahre, die ihr gegeben sein werden, in fieberhafter Eile alles hineingeben muss. Lili, die vielleicht noch talentiertere, noch genialere der beiden Schwestern. Als erste Frau überhaupt gewinnt sie 1913 souverän den Grand Prix de Rome, trotz frauenfeindlicher Jury. Obwohl Schwester Nadia später etliche der meisterhaften Kompositionen in ihr Repertoire aufnahm, geriet das Werk Lili Boulangers in Vergessenheit. Auch der Pianistin Kyra Steckeweh, Jahrgang 1984, fiel irgendwann auf, als sie begann, eigene Konzertprogramme zu konzipieren, dass sich da kein einziges Werk einer Komponistin fand. So begab sie sich auf eine Entdeckungsreise durch Europa, sie recherchiert in Archiven und Bibliotheken, sprach mit Nachkommen der Musikerinnen. "Seitdem komme ich aus dem Stauen nicht mehr heraus, ich fand eine Menge Werke von Komponistinnen, von denen ich noch nie zuvor gelesen oder gehört hatte", sagt Steckeweh. Aus dieser spannenden Spurensuche ist ein Film und eine CD entstanden, für die sie an diesem Sonntag, 18. Oktober, im Berliner Konzerthaus den Opus Klassik 2020 erhält. Der Arbeitskreis Kunst des Kommunikationszentrums für Frauen zur Arbeits- und Lebenssituation (kofra) zeigt "Komponistinnen" am kommenden Dienstag, 20. Oktober, 19 Uhr, im Haus an der Baaderstraße 30. Näheres unter www.kofra.de.

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