Niederlande:Gutgelaunt scheitern

Niederlande: Menschen in einer Einkaufstraße in Amsterdam: Etwa 8000 Ansteckungen am Tag haben die Niederlande derzeit.

Menschen in einer Einkaufstraße in Amsterdam: Etwa 8000 Ansteckungen am Tag haben die Niederlande derzeit.

(Foto: AFP)

Das Land fragt sich, woher seine aktuelle Corona-Katastrophe rührt. Liegt es an der traditionellen Liberalität? Oder doch eher an Politikversagen?

Von Thomas Kirchner

Das Problem, das die Niederlande haben, lässt sich kaum treffender schildern als mit jenem 15-Sekunden-Clip, der vergangene Woche in sozialen Medien umging. Da wird ein junger Mann, offenbar Mundschutz-Skeptiker, vor einem Supermarkt interviewt. Er sagt, mit ehrlicher Begeisterung: "Ich finde es gut, dass wir in den Niederlanden selbst entscheiden können, was wir machen. Wissen Sie, wir sind clevere Leute." Die Journalistin entgegnet: "Aber clevere Leute mit der höchsten Infektionsrate der Welt!", woraufhin der Mann die Augen senkt und murmelt: "Ich weiß, ich weiß."

Das mit der höchsten Infektionsrate der Welt mag übertrieben sein, aber in Europa liegt das Land weit oben. Es läuft definitiv schlecht. Etwa 8000 Ansteckungen am Tag, das ist genauso viel wie in Deutschland, das aber mehr als viermal so viele Einwohner hat. Schon wieder gibt es zu wenig Intensivbetten, wie im Frühjahr sollen beatmete Patienten nach Nordrhein-Westfalen geschickt werden. Man hat es in den Niederlanden nicht für nötig gehalten, die Zahl der ursprünglich 1150 Betten wesentlich zu erhöhen - im ähnlich großen NRW gibt es 6000. Im Vergleich wird wenig getestet, die Gesundheitsämter sind völlig überfordert mit der Nachverfolgung von Kontakten, die für April angekündigte Covid-Warn-App ging soeben erst an den Start. Und Mundschutz? Eine Tragepflicht im öffentlichen Raum wurde eben erst erlassen, und von der Regierung geht eher die Botschaft aus, dass die "mondkapjes" nichts bringen.

Eine leise Zerknirschung greift um sich, die in starkem Kontrast steht zu dem demonstrativen Stolz und der Lässigkeit, die die Niederländer in den ersten Monaten der Pandemie zur Schau trugen. Der Tenor damals: Die Sache lasse sich auch mit weniger strengen Maßnahmen regeln; mehr sei den freiheitsliebenden Niederländern nicht zuzumuten. Entsprechend sprach Premier Mark Rutte von einem "intelligenten" Lockdown, was auch ein Seitenhieb war gegen Nachbarländer, die glaubten, das Virus mit Blut-Schweiß-und-Tränen-Maßnahmen bekämpfen zu müssen. Viele Medien übernahmen den Begriff "intelligent" ohne Anführungszeichen und feierten Ruttes Besonnenheit. Es dominierte die Freude darüber, wie "gut organisiert" das Land sei. Kritik war kaum zu hören, und wenn, dann von jenen, denen der "Viruswaanzin" noch viel zu weit ging.

Die erste Welle der Pandemie überstand das Land leidlich, und als die Zahlen sanken im Sommer, stieg die Selbstgewissheit noch. Doch nun, da die Niederlande, wie Belgien, von einem "Tsunami" erfasst werden könnten, tauchen Fragen auf. Wie lassen sich die hohen Werte und das Scheitern der Strategie erklären? Hat es womöglich mit ebenjenen "nationalen Eigenschaften" zu tun, auf die man sich so viel zugutehält? Verhindern die Liberalität, die die Niederlande für viele zu einem der lebens- und liebenswertesten Länder der Welt macht, und die Polder-Demokratie des gemeinsamen Aushandelns eine effektive Pandemie-Bekämpfung?

Völkerpsychologie steht hoch im Kurs. Der niederländische Geriater Rudi Westendorp zog in De Volkskrant einen Vergleich mit Dänemark, für dessen Corona-Krisenteam er längere Zeit tätig war. Dort sei das Virus erfolgreicher eingedämmt worden, weil sich der Einzelne intensiver als Teil einer Gruppe verstehe. "Du bist Teil der Gesellschaft, also muss die Gesellschaft für dich sorgen. Aber viel wichtiger ist, dass du dafür sorgst, dass die Gesellschaft gut funktioniert." In den Niederlanden fehle dieses "kollektive Bewusstsein". Noch dazu würden einmal gefasste Beschlüsse nicht allgemein akzeptiert.

Oder ist es die extrem hohe Bevölkerungsdichte? Experten verwerfen die These, denn wirklich enge Wohnverhältnisse gibt es kaum, die meisten Niederländer leben im eigenen Häuschen. Anstecken können sie sich eher auf Partys ohne Schutz. Berühmt wurde das wilde Treiben in einem Zelt auf dem Haager Parlamentsplatz, just zu der Zeit, als die Abgeordneten über den seit Mittwochabend geltenden "Teil-Lockdown" debattierten.

Manche sehen einen viel handfesteren Grund: Regierungsversagen. Rutte und seine wichtigsten wissenschaftlichen Berater hätten von Beginn an widersprüchlich kommuniziert, klagt die Netzbewegung "Containment nu". Sie hätten offen mit der Theorie der "Herdenimmunität" gespielt und sich, anders als etwa Deutschland, bewusst gegen eine harte Strategie zur möglichst starken Eindämmung des Virus ausgesprochen. Die Folgen sehe man nun.

In die Kritik gerät auch Ruttes demonstrativer Optimismus, seine ewige Gutgelauntheit. In seinem Auftreten komme der Wunsch zum Ausdruck, "so schnell wie möglich zurückzukehren zu den fröhlichen Zeiten mit dem Bierchen auf der Terrasse", schreibt Addie Schulte im NRC Handelsblad. Das verleite zu dem Irrglauben, alle Probleme seien fix lösbar, alles lasse sich präzise berechnen und vorhersehen. Die Pandemie zeige die Mängel eines Systems, in dem extrem knapp kalkuliert werde, etwa bei der Pflege und bei Krankenhausbetten: "Der Faktor Unsicherheit wird weggelassen. Wer das ganze Fett von den Knochen entfernt, verhungert schnell."

Noch schlägt die wachsende Kritik an Rutte nicht auf die Umfragezahlen durch, die seine Rechtsliberalen einsam an der Spitze sehen. Aufhorchen lässt aber das Comeback des Rechtsnationalisten Geert Wilders, der Ruttes Corona-Kurs scharf attackiert und inzwischen, es war zu erwarten, vor allem Migranten für die steigenden Infektionszahlen verantwortlich macht. Wilders' Partei für die Freiheit hat das ein Plus von mehreren Punkten eingebracht.

Und dann ist da noch die peinliche, allen Corona-Empfehlungen hohnlachende Urlaubsreise der Königsfamilie nach Griechenland. Willem-Alexander und Maxima brachen den Trip am Wochenende wegen empörter Twitter-Kritik nach einem Tag ab. Rutte, politisch verantwortlich für das Gebaren des Monarchen, musste gestehen, von der Reise gewusst, aber nicht abgeraten zu haben.

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