Katja Riemann am Berliner Gorki Theater:Bademäntel des Grauens

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Wozu sich noch Illusionen machen? Katja Riemann in Sibylle Bergs neuem Theaterstück. (Foto: imago images/Martin Müller)

Katja Riemann kommt in Sibylle Bergs Drama-Frontalangriff "Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden" am Berliner Gorki Theater ohne Star-Bonus aus.

Von Peter Laudenbach

Sibylle Berg blickt übellaunig auf die Welt und darauf, was diese Welt den Menschen zumutet. Selbstoptimierungsgurus, Durchhalte-Optimismus und Wohlfühloasen im Kulturbetrieb gibt es schließlich schon genug. Bergs neues Theaterstück mit dem schönen Titel "Und sicher ist mit mir die Welt verschwunden", es ist ihr 26., wenn wir richtig gezählt haben, unternimmt nicht weniger als eine finale Abrechnung mit so ziemlich allem. Mit dem sinnlosen Leben und dem noch sinnloseren Sterben, mit Cappuccino-Trinkerinnen, Pauschalurlaubern und der Fifa, mit den "Alten, die den Planeten ruiniert haben" und den Jungen, die den Marktwert der Alten kühl kalkulieren, zum Beispiel bei den Kosten eines Betts auf der Intensivstation. "Ich bin jetzt in dem Alter, in dem sich die Ärzte gegen meine Beatmung entscheiden, wenn auf der Nachbarliege ein aufstrebender Portfolio-Manager liegt", stellt Bergs namenlose Protagonistin fest. Wozu sich noch Illusionen machen, "das Leben ist eine einzige Zumutung."

Die Sterbende malt sich einen letzten Racheakt aus

Sebastian Nüblings Uraufführung am Berliner Maxim-Gorki-Theater ist der Abschluss einer Serie von insgesamt vier Berg-Texten, die er in den vergangenen Jahren an diesem Haus inszeniert hat. Sie sind lose miteinander verknüpft und arbeiten sich in Bergs hoch beschleunigtem, jederzeit übertreibungs- und pointenfreudigen Stil durch die Biografie einer wütenden Frau: Jugend, die Geburt einer Tochter, Geschlechterkämpfe und andere Katastrophen. Im letzten Stück der Serie wartet sie auf der Intensivstation auf ihren Tod, sie erinnert sich an das 13-jährige Mädchen, das sie einmal war. Sie saß in ihrem Kinderzimmer und hörte Musik und das Leben war ein einziges großes Versprechen. Ein paar Jahrzehnte später ist davon vor allem Wut und das Gefühl übrig geblieben, um ein schöneres Leben betrogen worden zu sein.

Die Sterbende malt sich aus, wie sie sich in einem letzten Racheakt mit "ein paar marktliberalen Idioten" in die Luft jagt: "Ich würde mich mit einem furiosen Knall aus der Welt verabschieden, an der ich nicht mehr hing." Das ist vielleicht kein schöner Plan, aber es ist zumindest ein Ziel, oder wenigstens eine belebende Hass-Fantasie. Und das ist das einzige, was der Frau auf der Intensivstation jetzt gegen die Depressionen beim Blick in den Abgrund hilft. Subtilität ist nicht Sibylle Bergs Sache, aber hinter den Sarkasmen und knalligen Parolen ("Ich ficke den Kapitalismus") schimmert immer so etwas wie eine warmherzige Melancholie durch.

Man erkennt sie hinter Brille und Perücke erst auf den dritten Blick

Wie in den anderen Teilen der Gorki-Serie verteilen sich die Erinnerungsfetzen, Assoziationen und Wutausbrüche auf vier Schauspielerinnen, mal aufgesplitterter, mal kompakter Chor. Es geht ganz sicher nicht um eine sensible Charakterstudie, es geht eher um einen Frontalangriff. Und der ist bei aller Misanthropie des Textes in der Spielweise ausgesprochen lässig, selbstironisch und überbordend. Die vier Performerinnen sind optisch kaum zu unterscheiden, alle vier tragen zu ihren unförmigen Riesenbrillen und leicht fettigen Haaren Bademäntel des Graues über ihren Animal-Print-Schlafanzügen (Kostüme: Ursula Leuenberger). Was natürlich eine eigene, trotzige Komik hat, wenn die vier Krankenhaus-Insassinnen an ihren rollbaren Stehpulten, vielleicht sind es auch aufgerüstete Rollatoren (Bühne: Magda Willi), über die Spielfläche tänzeln.

Neben den erfahrenen Gorki-Schauspielerinnen Anastasia Gubareva, Svenja Liesau und Vidina Popov spielt Katja Riemann eine der vier Patientinnen mit Amoklauf-Potenzial, und sie spielt ziemlich hinreißend. Zum einen, weil sie exakt so spielfreudig, uneitel und offensiv auftritt wie ihre Mitspielerinnen, zum anderen, weil sie auf jeden vordergründigen Star-Appeal verzichtet. Man erkennt sie hinter der Brille und unter der Perücke erst auf den dritten Blick. Nur die unverwechselbare, gerne die ironischeren Tonlagen umspielende Stimme erinnert daran, dass hier gerade eine der prominentesten deutschen Schauspielerinnen auf der Bühne steht.

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Die Inszenierung ist das Gegenteil einer Steilvorlage für einen Star. Gerade weil sie sich jedoch so weit von ihren nicht immer ganz klischeefreien Kino-Rollen entfernen kann, sieht man, was für eine tolle, lustige, intelligente Schauspielerin hier auf der Bühne steht. Und eine Schauspielerin, die offenkundig sehr genau weiß, weshalb sie ausgerechnet am linken Gorki-Theater und ausgerechnet in dieser lustigen wütenden Inszenierung auftritt, die ein paar Weiblichkeitsklischees fast nebenbei in die Luft jagt.

© SZ vom 27.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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