"Bohnenstange" im Kino:Krieg im Körper

Lesezeit: 3 min

Intensive Farben bestimmen das Drama „Bohnenstange“. (Foto: Non Stop Production)

Das dramaturgisch und visuell beeindruckende Drama "Bohnenstange" über menschliche Beziehungen im Nachkriegsrussland.

Von Annett Scheffel

Iya kann sich nicht bewegen. Die Muskeln gefrieren, der Blick gleitet aus der Welt, die Stimme verstummt. Nur ein heiser pfeifender Ton ist noch von ihr zu hören, wenn sie in diesen katatonischen Zustand verfällt. Der Zuschauer hört diese Erstickungsgeräusche, bevor das erste Bild des Films aufleuchtet. Seit dem Krieg, der gerade zu Ende gegangen ist, hat Iya posttraumatische Anfälle. Nichts und niemand kann in diesen Momenten zu ihr durchdringen. Nicht die anderen Krankenschwestern, mit denen sie im Herbst 1945 in einem Hospital in Leningrad schwer verletzte Soldaten versorgt. Nicht der kleine Paschka, um den sie sich wie eine Mutter kümmert. Und nicht Mascha, ihre beste Freundin, die von der Front zurückkehrt und zu ihr in die heruntergekommene Wohnung zieht.

"Bohnenstange" ist ein Ereignis von emotionaler Schwerkraft. Kantemir Balagows Historiendrama spielt in der Zeit des Wiederaufbaus. Wie alle anderen suchen auch Iya und Mascha nach der Blockade von Leningrad ihren Weg zurück in ein normales Leben. Der junge russische Filmemacher konzentriert sich aber auf eine andere Erzählung: die einer traumatisierten Stadt und ihrer Bewohner, die nun, wo das Leben neu beginnen soll, körperlich, moralisch und seelisch schon am Ende sind.

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Von den SZ-Kritikern

Die Menschen müsse nach dem Krieg sogar die Organe miteinander teilen

In diesem Leningrad, das uns Balagow in seinem dramaturgisch wie visuell beeindruckenden Film zeigt, ist der Krieg allgegenwärtig. Er hat sich in die Körper eingeschrieben. In der Klinik schleichen die verwundeten Soldaten durch die Zimmer oder liegen bis zum Hals gelähmt ihn ihren Betten. Und selbst Iya, die alle wegen ihrer hochgewachsenen Gestalt "Dylda" nennen (Russisch für Lulatsch oder Bohnenstange), sieht mit ihren weißen Wimpern, den hellblonden Haaren und der durchscheinenden Haut aus, als hätten ihr der Mangel und die Grausamkeiten des Krieges eine außerweltliche Gestalt aufgezwungen. Und dann ist da Mascha, die auf den ersten Blick vitalere Frau mit den kurzen roten Haaren und dem provokanten Lächeln. Sie ist die leibliche Mutter von Paschka. Den an der Front geborenen Sohn hatte sie der Freundin Mascha zur Obhut mitgegeben. Von dort ist sie mit einer Narbe quer über den Unterleib zurückgekehrt. Ein weiteres Kind kann sie nicht bekommen. Stattdessen soll Iya eines für sie austragen. Wo der Krieg die Menschen mit versehrten Körpern zurückgelassen hat, beginnen sie ihre Organe miteinander zu teilen.

Dass Balakow für "Bohnenstange" bereits 2019 in Cannes für die Beste Regie in der Sektion "Un Certain Regard" ausgezeichnet wurde, liegt an seiner erzählerischen Brillanz. Die Freundschaft der beiden Frauen - die eher einer intimen Komplizenschaft gleicht - steht im Zentrum des Films. Trotzdem schafft es Balagow nicht nur diese Zweierbeziehung sehr präzise zu inszenieren, sondern auch ein Gefühl für Zeit und Gesellschaft in Stalins Nachkriegsrussland miteinzubauen. Und zwar ohne das übliche kommunistische Figurenarsenal und ohne dass die Geschichte in Form von Radioansprachen oder Zeitungsschlagzeilen in seine Filmwelt hineindringen. Balagows große Kunst ist die der Verknappung. Die kollektive, seelische Verwüstung und das noch fragile gesellschaftliche Gesamtgefüge lotet er in kleinen Momenten aus. Einzelne Sätze, die einem die Nackenhaare aufstellen. In einer Szene spielen die Patienten mit Paschka. Sie ahmen Tiere nach, die der Kleine erraten soll. Als der sich beim Hund schwertut, bemerkt einer der Soldaten lakonisch: "Wann soll der Junge je einen Hund gesehen haben? Die wurden ja alle gegessen."

Diese kaputte, unwirtlich kalte Welt inszeniert Balakow mit einer üppigen Farbdramaturgie: Die oft ausgedehnten, leisen Szenen spielen zum größten Teil in schäbigen Innenräumen. Auf all das blickt der Zuschauer aber in den sorgfältig komponierten Bilder von Kamerafrau Ksenia Sereda, die von hinreißender Schönheit sind. Die Rot- und Grüntöne sind so dunkel und kräftig, dass sie zu glühen scheinen. Und die Räume sind kunstvoll ausgeleuchtet, ähnlich wie in einem Gemälde von Rembrandt. Die visuellen Texturen und Details erzählen in "Bohnenstange" ihre eigene Geschichte - und manchmal sagen sie, wofür den Figuren die Sprache abhandengekommen ist. Für all die verdrängten Schrecken und vor allem für die Gier nach der so schwer gewordenen menschlichen Nähe.

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Und so ist das zärtlichste Bild dieses Films kein Kuss, sondern das glutrot aufflackernde Ende einer Zigarette. Iya hat ihrem gelähmten Patienten eine Gnadenspritze gegeben und haucht ihm in einem letzten Akt der Zuneigung Rauch in den Mund. In dem feinen Dunst, der zwischen den Gesichtern ausgetauscht wird, liegt eine Intimität, die so quälend und schön ist wie dieser Film.

Dylda, Russland 2019 - Regie: Kantemir Balagov. Buch: Kantemir Balagov, Alexander Terekhov. Kamera: Ksenia Sereda. Schnitt: Igor Litoninskiy. Mit: Viktoria Miroshnichenko, Vasilisa Perelygina. Eksystent, 137 Min.

© SZ vom 27.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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