Dialekt:Wenn das R wieder rollt

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Über Sächsisch wird oft gelacht und Oberbairisch als überheblich empfunden. In vielen Bereichen kommt ein Dialekt nicht so gut an. Sprechtrainerin Alice Tielich hilft Managern oder Politikern, Hochdeutsch zu sprechen.

Von Laura Wiedemann, München

"Mmmmmmh" brummt es sanft durch den Raum. Bei jedem Ausatmen gibt Alice Tielich dieses Summen von sich. Dann holt die große schlanke Frau mit dem welligen Haar wieder Luft. Ihre Augen sind geschlossen, die Hände liegen auf dem Bauch, die Beine stehen schulterbreit auseinander. "Mmmmh", immer wieder, dann öffnet die Sprechtrainerin langsam ihre Augen. Mit dieser Übung beginnen die meisten Stunden bei der 38-jährigen Sprechtrainerin. Das beruhige ihre Schülerinnen und Schüler, es lockere ihre Kiefer, sagt sie. "Die meisten Menschen, die zu mir kommen, sind anfangs etwas nervös. So eine Übung gemeinsam zu machen, nimmt das." Wenn für Manager, Politiker oder professionelle Sprecher nach dieser Übung ihr Sprechtraining bei Tielich beginnt, ist die erste Unsicherheit meist schon überwunden.

Alice Tielich hat selbst mehr als drei Jahre Sprecherziehung genommen, heute gibt sie - neben ihrem Beruf als Synchronsprecherin und Moderatorin - Unterricht. Mit ihren Schülerinnen und Schülern arbeitet sie dann in Einzelstunden an Tonlage, Stimmfarbe und Aussprache. Aber nicht nur das. Viele Menschen, die zu ihr kommen, möchten noch etwas anderes: ihren Dialekt los werden. "Das hat in den meisten Fällen mit Unsicherheit zu tun", sagt Tielich, "für viele entsteht durch ihren Dialekt fast schon ein Leidensdruck."

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Vor allem in der Wirtschaft sei Dialekt noch negativ behaftet. Da würden Chefs ihre schwäbelnden Mitarbeiter zu ihr schicken, oder ein Oberbayer mit deutlichem Zungenschlag wolle sich auf die nächste Präsentation vorbereiten, um sie hochdeutsch hinzubekommen. Aber auch Menschen aus der Politik, den Medien und der Öffentlichkeit seien häufig ihre Kunden, sagt Tielich.

Aber warum wollen Menschen ihren Dialekt los werden? "Zum einen können durch Dialekte ganz einfach Verständigungsprobleme entstehen", sagt die Sprachtrainerin. Würde zum Beispiel ein Personalchef mit breitem niederbayerischen Dialekt zu seinen Mitarbeitern in Berlin sprechen, könne man nicht davon ausgehen, dass ihn dort jeder verstehe. Außerdem seien Dialekte oft mit Vorurteilen behaftet. Über Sächsisch werde oft gelacht, Allgäuer Dialekt als niedlich empfunden, Oberbairisch mit Überheblichkeit - Tielich erwähnt das bekannte "Mia san Mia" - verknüpft. "Der erste Eindruck hängt immer auch mit der Stimme zusammen", sagt sie, "und es ist leider immer noch so, dass Dialektsprecher oft als weniger kompetent wahrgenommen werden." Sie selbst bedauert das. Dialekte einfach abzutrainieren, kommt für sie deshalb nicht infrage. "Hier wird nur dazugelernt", sagt Tielich in perfektem Hochdeutsch und erzählt, dass auch sie selbst Dialekt spricht.

Schon ein kleiner Trick kann helfen

Aufgewachsen in Niederbayern, habe ihr vor allem das rollende "R" am Anfang ihrer Sprecherinnen-Karriere Probleme gemacht. Das entsteht vorne im Mund, mit der Zungenspitze hinter den Zähnen. Schon ein kleiner Trick helfe dabei, es in einen Reibelaut zu verwandeln. Sie hält sich den ausgestreckten Zeigefinger unter den Kopf, drückt ganz leicht an die Stelle zwischen Kinn und Kehle und spricht das sogenannte "Rachen-R" vor. Der Finger erinnere bei dieser Übung daran, das "R" statt vorne im Mund hinten am Gaumen zu bilden. "Ich weiß gar nicht, wie viele Texte über Reis ich mir damals selbst vorgelesen habe, bis das Rachen-R endlich saß", sagt sie. Vielen Menschen mit demselben Problem helfe auch das Gurgeln - zuerst mit Wasser, dann ohne. So bekomme man ein Gefühl für den Ort im Mund, an dem das "R" entstehen soll.

All das sind Hilfestellungen, die sie selbst in der Sprecherziehung lernte. Nach ihrem Studium der Politologie und Geschichte in Regensburg kam Alice Tielich nach München. Beim Münchner Ausbildungsradio M94.5 entdeckte sie dann ihre Leidenschaft für das Sprechen als Beruf. Dort moderierte sie ihre erste Radiosendung und sprach Nachrichten ein.

Seit 2018 arbeitet sie nun als Coach. Oft falle ihren oberbayerischen Schülern erst während des Trainings auf, dass sie anstelle des geschriebenen "lieb", ein in die Länge gezogenes "liab" sprechen. Schwaben erkennen erst dann das "Sch", das sie ans Ende vieler Verben setzen. Aus "Hast du" wird "hasch", aus "kannst du" wird "kannsch". Über solche Kleinigkeiten höre man oft selbst aus Gewohnheit hinweg.

Vielmehr als um das akzentfreie Sprechen gehe es aber auch darum, Bewusstsein für den eigenen Klang zu schaffen und diesen zu akzeptieren, "Frieden mit der eigenen Stimme und auch dem eigenen Dialekt zu schließen". Als sie dann von der Begegnung mit einer niederbayerischen Marktverkäuferin am Viktualienmarkt erzählt, blitzt ihr eigener Dialekt kurz durch. "Als sie mich so freundlich auf Niederbairisch begrüßt hat, habe ich ihr auch direkt im Dialekt geantwortet", sagt sie, "die Frau hat sich total gefreut, ihren Dialekt zu hören und ich mich auch." Verbindung schaffen, Nähe herstellen - Dialekt könne eben auch von Vorteil sein.

Eigene Sprach ist mit Identität verknüpft

Für Tielich ist ihre eigene Sprache unmittelbar mit ihrer Identität verknüpft. Nur kurz habe sie sich mal etwas vom Dialekt entfernt, als sie sich vor Jahren auf ihre Sprecherinnenausbildung vorbereitete. Damals habe sie sogar in ihrer niederbayerischen Heimat mit Freunden und Familie das Hochdeutschsprechen durchgezogen. Vor allem bei ihrer Mutter habe das für Irritation gesorgt. Aber es sei eben alles eine Sache der Gewöhnung, und der Übung: "Sprechen lernen wir grundsätzlich nur durch das Sprechen selbst, da hilft keine bloße Theorie". Heute fühle sie sich im Hochdeutschen ebenso wohl. Ihren Dialekt pflegt sie aber weiter. Alice Tielich kann mühelos zwischen akzentfreier Aussprache und dem Niederbairischen hin und her wechseln.

Sie selbst muss an diesem Tag weiter zu einem Sprecherinnenjob. Heute auf Hochdeutsch. Und vielleicht fährt sie dorthin ja wieder der Taxifahrer, der so schön Niederbairisch spreche, sagt Alice Tielich, "auch in München bin ich immer von Dialekten umgeben".

© SZ vom 29.10.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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