Drosten hält Schillerrede:Schiller würde Maske tragen

Schillerrede 2020 - Prof. Dr. Christian Drosten

Christian Drosten macht sich Gedanken über Freiheit und Verantwortung der Wissenschaft, aufgezeichnet in einem würdigen Raum der Berliner Charité.

(Foto: Screenshot youtube/Deutsches Literaturarchiv - Literaturmuseen)

Ist Christian Drosten einer von uns? Ein paar Anhaltspunkte gibt der Virologe und Erklärer der Coronavirus-Pandemie in seiner Festrede zum Geburtstag des Dichters der Freiheit, Friedrich Schiller.

Von Marie Schmidt

Eine Geschichte aus Christian Drostens Sturm-und-Drang-Zeit ist so überliefert: Als Arzt im Praktikum arbeitete er mit Anfang dreißig im Bernhard-Nocht-Institut für Tropenmedizin in Hamburg. Da verschaffte ihm ein befreundeter Virologe in Frankfurt die Zellprobe eines Sars-Patienten aus Singapur. Drosten sei, das Präparat in einem Salzblock konserviert, damit in seinem Opel Omega zurück ins Labor gerast, wo er Tag und Nacht arbeitete, bis er Sars-CoV identifiziert hatte, das erste dieser neuartigen Viren. So erzählte es zumindest die Zeit im Frühjahr, damals, als die Republik über die traumhafte Souveränität des Naturwissenschaftlers noch einhellig staunte.

Das klingt nach der Gründungslegende einer großen Laufbahn: Der junge Mann folgt seiner Bestimmung und deswegen ist genau er es siebzehn Jahre später, der seinem Land, den Mitbürgern, womöglich der Welt helfen kann, als die Sars-CoV-2-Pandemie ausbricht, weil kaum einer die Coronaviren kennt wie er.

"Ich bin Virologe mit einer Spezialisierung auf dem Gebiet der Coronaviren. Dieses Thema habe ich mir selbst ausgesucht. Ich fand Viren schon immer faszinierend, aber diese Viren reizen mich seit vielen Jahren ganz besonders", sagte Drosten, als er jetzt die traditionelle Rede zum Geburtstag von Friedrich Schiller hielt. Zu der laden die Deutsche Schillergesellschaft und das Literaturarchiv Marbach Politiker, Dichter und Denkerinnen aller Klassen ein. Es geht um eine Sonntagsrede im edelsten Sinne. 2020 hielt sie also per Videoaufzeichnung der Mediziner Drosten, der dieses Jahr schlagartig populär geworden ist, als er bei seinen Auftritten in der Bundespressekonferenz und in seinem Podcast im NDR den Deutschen begreiflich machte, was so eine Corona-Pandemie bedeutet. Er hat dabei der schlimmen Versuchung solcher Reden widerstanden, sich eines Zitatenschatzes und einer Bildung in Sachen Schiller zu befleißigen, die seine eben nicht ist.

Es gibt die andere Sorte von Intellektuellen, die vieles wissen und damit die ganze Welt in neuem Licht glänzen lassen können, Drosten aber ist eben der Mann, der über das eine Problem alles weiß, das die ganze Welt im Augenblick beschäftigt. Zum Intellektuellen wird er gerade dann, wenn er auf den Grenzen seines Wissens besteht. "Ein Wissenschaftler ist kein Politiker", hat er in den vergangenen Monaten immer wieder gesagt, und wo denn die Wirtschafts- und Erziehungswissenschaftler seien, die der Politik noch andere Entscheidungsgrundlagen geben könnten als seine Virologie. Dieses Selbstbewusstsein in seiner Rolle gehört zur erstaunlichen Figur Drosten - wie auch die unentfremdete Sprache, mit der er in Interviews und seinem Podcast spricht, sodass Wörter wie "Aerosol" und "Herdenimmunität" flüssig ins Alltagsvokabular übergegangen sind.

Er ist ausdrücklich keiner von uns. Aber dass er so wirkt, als ob, ist sein großer taktischer Vorteil

In seiner Schillerrede hat er sich noch einmal in den Begriffen der deutschen Aufklärung erklärt. Die Begrenzung seines Erkenntnisinteresses und die strengen Standards wissenschaftlicher Methoden bedeuteten ihm Freiheit, sagte Drosten: "Diese Art zu arbeiten, macht mich als Forscher unabhängig von möglichen Erwartungen und Interessen Dritter."

Aus der Freiheit entstehe aber eben auch die Verantwortung, anderen Menschen sein Wissen zur Verfügung zu stellen. Früh in seiner Karriere war Drosten dafür bekannt, seine Studien mit der Fachöffentlichkeit zu teilen, seine Arbeit somit überprüfbar zu machen, bevor sie den langwierigen akademischen Publikationsprozess durchlaufen hatte. Daraus bezieht er, wie seinen Erklärungen dazu in seinem Podcast anzumerken war, einigen Stolz. Hier meint er aber noch etwas anderes: gesellschaftliche Verantwortung dafür, jeden Mitbürger mit seinem Wissen zu befähigen, vernünftig zu handeln. Nicht zum ersten Mal formulierte Drosten einen pandemischen Imperativ "Handle in einer Pandemie stets so, als seist du selbst positiv getestet, und ein Gegenüber gehörte einer Risikogruppe an".

So sehr Drosten immer wieder darauf besteht, dass ihn als unabhängigen Akademiker nichts zu regulatorischen Maßnahmen legitimiert - unpolitisch kann man nicht nennen, wie er sich die Folgen seines Wissens vorstellt. In der Pandemie zeige sich nämlich: "Je mehr ich mich als Individuum aus freien Stücken verantwortlich verhalte, desto weniger Anlass gebe ich dem Staat, ins gesellschaftliche Leben einzugreifen. Je unbedachter und egoistischer ich aber handle, desto eher muss der Staat meine Freiheit beschränken, um das Gemeinwesen wie auch das Wohlergehen der anderen Menschen wirksam zu schützen."

Mit dieser liebevollen Drohung umschreibt Drosten ein Regierungsmodell, in dem die Staatsmacht wie ein "guter Hirte" über die Selbsterhaltungskräfte des Einzelnen und die Ansprüche der Gemeinschaft wacht und sie nach den Maßstäben einer begründeten Vernunft lenkt. Da greifen die Souveränität des Einzelnen, des Staates und der unabhängigen Wissenschaft ineinander, sie managen sich in einer "Gouvernementalität", wie Michel Foucault das genannt hat: Eine Regierungsform, die eben eher gesellschaftliche Mentalität ist, als Herrschaft von oben nach unten. Aber es bleibt eine Form von Macht. Dass er in dieser Konstellation zwar nicht wie ein Politiker legitimiert ist, sein Handeln aber Machtausübung legitimiert, weiß Christian Drosten offensichtlich.

Diese Verantwortung spricht er an, wenn er sagt, die Wissenschaft müsse nicht nur anderen Experten, sondern auch jedem Einzelnen erklären können, wie sie zu ihren Ergebnissen kommt und warum sie sich manchmal korrigieren muss: "Ich möchte, dass die Menschen informiert sind". Als guter Hirte inmitten der Herde von Menschen appelliert er an seine Profession, gegen verdrehtes Wissen "mit nachweisbaren Fakten Stellung" zu beziehen.

Aber auch Christian Drosten entkommt nicht dem Paradox des Experten-Intellektuellen: Je mehr er dieser Verantwortung nachkommt, desto mehr gibt er die Autonomie seiner Expertise auf. Denn deren Wirkung hängt entscheidend von den Zirkulationsbedingungen öffentlicher Meinungen ab, und mit denen kennt er sich eben nicht aus. Eine "interessante und lehrreiche Erfahrung" sei der Meinungskampf für ihn gewesen, sagt er spitz. Friedrich Schiller allerdings rät: "leiste deinen Zeitgenossen, aber was sie bedürfen, nicht was sie loben." In den Worten Christian Drostens: "Im Hinblick auf das Coronavirus habe ich als Wissenschaftler damit zwangsläufig den Job, unangenehme Wahrheiten zu kommunizieren." Die Autorität dazu gewinnt er, indem er sich gegen andere Handlungsfelder abgrenzt, aber dieselbe Autorität hat ihn zur Person öffentlichen Interesses gemacht. Die Republik weiß jetzt: Christian Drosten fährt mit dem Fahrrad durch Berlin und bringt seinen Sohn in die Kita. Er trinkt - sympathische formation professionelle - in Kneipen Flaschenbier, weil ihm als Virologen vor in stehendem Wasser gespülten Gläsern graut.

"Er ist einer von uns", stand in der Gala. Was offensichtlich nicht stimmt, denn wer "von uns" hat schon mal ein Coronavirus sequenziert? Aber dass es so rüberkommt, ist sein entscheidender taktischer Vorteil. Man müsse ja auch nicht nur aus Pflichtgefühl vernünftig sein, gestand Drosten am Schluss seiner Rede mit Schiller gegen Kant zu. Ein Schillerzitat hatte er also doch noch auf Lager: "Gern dient' ich den Freunden, doch tu ich's leider mit Neigung", heißt es in den Xenien. Auch aus Freude an der Erkenntnis dürfe man verantwortungsvoll handeln: "Von daher bin ich mir recht sicher: Auch Friedrich Schiller würde Maske tragen". Da hat er, der wirkungsbewusste Experte, die Schlagzeile von morgen gleich selbst gemacht.

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