SZ-Serie: Bühne? Frei!:Radikal unterwegs im Schulalltag

Martin Beyer

Der Bamberger Schriftsteller Martin Beyer schreibt, liest und vermittelt Literatur morgens wie abends, mit Kaffee oder Rotwein. Zuletzt erschien sein Roman "Und ich war da" bei Ullstein.

(Foto: Marian Lenhard)

Kultur-Lockdown, Tag 8: Der Autor vermisst die Schüler und die Morgen-Bühne im Klassenzimmer

Gastbeitrag von Martin Beyer

Was uns Künstlerinnen und Künstlern in diesem Jahr zweifellos fehlt, ist die Abendbühne. Denken wir aber auch genug an die Morgenbühne? Die ist ein bisschen greller ausgeleuchtet, der Backstage-Raum ist voller Dokumente, Schränke, Unterlagen - und es wird dort Kaffee getrunken statt Rotwein. Wenn wir Künstlerinnen und Künstler morgens ausschwärmen, ist unsere Bühne das Klassenzimmer, und unser Auftrag lautet: kulturelle Bildung. Ich halte das für einen guten Auftrag, denn ich denke mir, dass es den jungen Menschen in ihrem Schulalltag gelegentlich guttut, einem freien Radikal in Menschengestalt zu begegnen. Jemand, der einem die Perspektive verrückt, zu kreativem Frühsport anregt, Haltung zeigt. So jemand möchte ich gerne sein; und so jemand möchte ich gerne wieder sein, wenn sich das Corona-Virus verzupft hat. Hoffentlich bald.

Kurz vor dem ersten Lockdown im Frühjahr habe ich mit einer Reihe von Schullesungen aus meinem Roman "Und ich war da" begonnen, in dem es darum geht, dass ein junger Mensch im Nationalsozialismus dadurch zum Täter wird, dass er nicht "nein" sagt und alles mehr oder weniger geschehen lässt. Ein Jedermann, könnte man sagen. Jemand, der sich nicht positionieren kann und will. Er schadet damit ausgerechnet Menschen, die den Mut hatten, Widerstand zu leisten. In den Diskussionen mit den Schülerinnen und Schülern ging es mir vor allem um einen Brückenschlag in die Jetztzeit, in der es nach meinem Empfinden wieder wichtig ist, aktiv und laut vernehmlich "nein" zu sagen zu Stimmen, die unsere freie und demokratische Gesellschaftsformation angreifen.

Nun hat sich durch die Pandemie und die Demonstrationen gegen die politischen Eindämmungsversuche diese Frage nach dem Nein-Sagen mit einer neuen Qualität gestellt. Es wird laut und vernehmlich "nein" gesagt gegen die Corona-Maßnahmen. Prinzipiell ist es zu begrüßen, Entscheidungen kritisch zu hinterfragen, in einer Demokratie ist Meinungsfreiheit ein hohes Gut. Jetzt aber wird damit mehr als nur indirekt "ja" gesagt zu rechtspopulistischen Versuchen, bestimmte Konzepte und Diskurse zu besetzen und auszuhöhlen. Begriffe wie "Widerstand" oder "Freiheit" werden - ohne sie historisch einzuordnen - in diesem neuen Kontext ad absurdum geführt. Plötzlich geht es um das Toleranz-Paradoxon nach Karl Popper, das uns lehrt, dass eine uneingeschränkte Toleranz mit Notwendigkeit zum Verschwinden der Toleranz führt. Aber wie viel Intoleranz muss, kann und darf sich eine tolerante Gesellschaft erlauben? Ich könnte also mit den Schülerinnen und Schülern über das Abschotten und Öffnen von Filterblasen diskutieren, über das richtige und das falsche "Nein". Das alles war im Frühjahr so noch nicht da, und ich merke: Ich möchte da raus, denn das Brückenschlagen von der literarischen Fiktion hinein in die Gegenwart hätte jetzt noch eine viel höhere Aktualität und Relevanz. Daher: Sehnsucht nach der Morgenbühne!

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