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Unser Kolumnist in New York hat eine aufregende und arbeitsreiche Woche hinter sich, das Telefon klingelte ununterbrochen, und am Ende trieb er sich mit Abertausenden Menschen auf dem Times Square herum. Als es endlich ruhiger wird, plingt das Handy.

Von Christian Zaschke

Am vergangenen Wochenende trieb ich mich auf dem Times Square herum, inmitten Abertausender Menschen, die feierten, dass Trump die Wahl verloren hat. Die Stimmung war prima, sie war, was eher selten vorkommt, bisweilen sogar besser als prima. Es ist viel darüber geschrieben worden, auch von mir, dass es sich anfühlte wie ein Tag der Befreiung.

Wegen der Corona-Krise habe ich die USA in diesem Jahr nicht verlassen, und deshalb dachte ich, während ich mit den feiernden New Yorkern sprach, in diesem Moment der Freude auch an die Menschen, die ich zu lange nicht gesehen habe. In der Mitte des tanzenden Times Square dachte ich an meine deutschen Freunde. An meine Familie.

Während ich eine norddeutsche Seele in mir trage und gut darin bin, tagelang nur das Nötigste zu sagen, besteht das Gros meiner Familie - und zwar im allerbesten Sinne - aus rheinischen Quasselstrippen und eher süddeutschen Plaudertaschen. Nehmen wir mal an, man verspräche meinen Geschwistern, meinen Nichten und Neffen, meinen Tanten und Onkeln, meinen Eltern und auch meiner 96 Jahre alten Oma bei einer Familienzusammenkunft, dass sie pro Kopf eine Million Dollar erhielten, wenn sie zehn Minuten lang schwiegen. Nach circa drei Minuten wäre eine heitere Diskussion darüber im Gange, was man mit der Kohle alles hätte anstellen können.

Die Präsidentschaftswahl hatte zuletzt dazu geführt, dass mein schwarzes Bürotelefon ohne Unterlass klingelte, und immer war eine gewisse Süddeutsche Zeitung in der Leitung und fragte nach mehr und dann nach noch mehr Artikeln. Es sind unter anderem diese Tage, derentwegen ich Journalist geworden bin.

Am Mittwoch hatte sich die Lage so weit beruhigt, dass das Bürotelefon ausnahmsweise nicht vor dem Morgengrauen klingelte. Doch um exakt 5.11 Uhr begann mein Mobiltelefon, Plings ins Schlafzimmer zu senden. Irgendjemand setzte Whatsapp-Nachrichten ab. Pling. Plingpling. Ich vergrub meinen Kopf unter den Kissen. Pling. Immer weiter. Gegen sechs Uhr gab ich auf. Ich nahm das Telefon in die Hand, um zu sehen, wer diesen Irrsinn veranstaltete. Ich verstand.

Es war der 11. 11., und was bei mir in Hell's Kitchen 5.11 Uhr ist, das ist im Rheinland 11.11 Uhr. Wir haben eine Familien-Whatsapp-Gruppe, und an diesem Morgen feierte die Familie in der Whatsapp-Gruppe Corona-Karneval. Die Alaafs flogen hin und her, Links zu Schunkelliedern, Bilder von Sektgläsern, und immer so fort.

Um ehrlich zu sein, steht Karneval in meiner persönlichen Ordnung der Dinge im gleichen Rang wie Hammerzehen. Doch an diesem Morgen spürte ich zum zweiten Mal innerhalb einer Woche eine Stimmung, die besser war als prima. Diesmal ging es nicht um die große Welt. Es ging um die kleine Welt, und ich schunkelte heimlich mit.

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