Frankreich:"Die enttäuschten Kinder der Republik wenden sich gegen sie"

Frankreich: Soldaten patrouillieren im Pariser Vorort Trappes

Französische Soldaten patrouillieren in einem nördlichen Pariser Vorort.

(Foto: CHRISTOPHE ARCHAMBAULT/AFP)

Im französischen Trappes haben sich besonders viele junge Menschen dem IS angeschlossen. Der Bürgermeister sieht die Schuld bei einer Regierung, die sich längst nicht mehr um "égalité" und "fraternité" kümmert.

Interview von Theresa Crysmann

Ali Rabeh, 35, ist seit diesem Sommer der Bürgermeister der französischen Kleinstadt Trappes, südwestlich von Paris. Als "islamistisches Pulverfass" machte der Ort Schlagzeilen. Die Mehrheit der 32 000 Einwohnerinnen und Einwohner sind Muslime, die meisten von ihnen jünger als dreißig. Viele der jungen Franzosen, die sich der Terrormiliz Islamischer Staat in Syrien angeschlossen haben, kommen von hier. Unter ihnen sind auch Verbindungsleute jener Attentäter, die im Pariser Konzertsaal Bataclan und anderen Orten am 13. November 2015, vor genau fünf Jahren, 130 Menschen ermordeten.

Für den obersten Posten in seiner Heimatstadt ist Rabeh aus der nationalen Politik zurückgekehrt - er war lange die rechte Hand des sozialistischen Politikers Benoît Hamon, organisierte dessen Parlamentswahlkampf 2012, beriet ihn im Bildungsministerium und war Sprecher für dessen neue linke Partei Génération.s. Für ihn zeigt sich in der Radikalisierung junger Menschen das Versagen einer Regierung, der es wichtiger ist, die nächste Wahl zu gewinnen als die grundlegenden Ursachen sozialer Ungleichheit anzugehen. Zuletzt kündigte Präsident Emmanuel Macron ein "Gesetz gegen Separatismus" an, das die Entstehung islamistisch geprägter Parallelgesellschaften verhindern soll.

Interview am Morgen

Diese Interview-Reihe widmet sich aktuellen Themen und erscheint von Montag bis Freitag spätestens um 7.30 Uhr auf SZ.de. Alle Interviews hier.

SZ: Monsieur Rabeh, was versprechen Sie sich als Bürgermeister von Trappes von Macrons "Gesetz gegen Separatismus"?

Ali Rabeh: Nicht viel. Das vorgeschlagene Separatismus-Gesetz enthält bisher kaum konkrete Maßnahmen. Es geht zwar um die Einschränkung ausländischer Finanzierung von Moscheen und die Ausbildung von Imamen in Frankreich, aber nicht darum, dass endlich auch Chancengleichheit und Perspektiven für die jungen Menschen am Rand der Gesellschaft geschaffen werden.

Ich sehe diese Initiative daher eher als eine Wahlstrategie von Emmanuel Macron. Die Abstimmung über das Gesetz ist für Oktober 2021 angesetzt, sechs Monate vor der Wahl - genau dann beginnt der Präsidentschaftswahlkampf.

Eine Regierung, die nicht für ihre Versäumnisse in der Wirtschafts-, Sozial- und Gesundheitspolitik zur Rechenschaft gezogen werden will, organisiert eine riesige Diskussion über Identität und Islam. Auch wenn diese Themen für Macron persönlich nicht unbedingt zentral sind, ist das seine zynische und gefährliche politische Logik. Er sendet Signale an die rechte und rechtsextreme Wählerschaft und versucht, sie für sein Lager zu gewinnen.

Seit 2012 gab es 260 islamistisch motivierte Morde im Land, die meisten europäischen Dschihadisten sind junge Franzosen. Die Morde in einer Kirche in Nizza und die Enthauptung des Lehrers Samuel Paty haben Frankreich in den vergangenen Wochen wieder traumatisiert. Die Bedrohung durch islamistische Gewalt besteht also durchaus.

Ja, natürlich. Es gibt separatistische Bestrebungen und Gruppen, die junge Menschen überreden, sich gegen die Gesellschaft zu stellen. Aber ich sage auch oft als Bürgermeister: Parallelgesellschaften entstehen dort, wo die Republik sich zurückgezogen hat. Da, wo sich Menschen abgehängt fühlen, stoßen diejenigen, die unsere Gesellschaft spalten wollen, auf offene Ohren.

Das ist ein bisschen wie bei Ebbe und Flut: Wenn sich das Wasser zurückzieht, sieht man auf einmal, was auf dem Grund liegt. Wenn der Staat in den Arbeitervierteln und in den Vorstädten das Feld räumt, kommen auf einmal gefährliche Kräfte von unten hoch und versuchen, das Vakuum zu füllen. Um dagegen vorzugehen, brauchen wir keine neuen Gesetze. Wir brauchen eine stärkere Präsenz des Staates und öffentliche Dienstleistungen, um die Idee der Republik an diesen Orten wieder mit Leben zu füllen.

Ist Trappes so ein Ort, aus dem sich, wie Sie sagen, die Republik zurückgezogen hat?

In Frankreich ist die Republik quasi eine Zusage an alle Bürger: Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit. Jeder ist ein Teil der französischen Nation mit gleichen Chancen. Allen Kindern im Land wird das schon in der Schule eingebläut. Aber an vielen Orten hält der Staat sein Versprechen nicht ein. In Arbeitervierteln haben wir weniger Freiheit als anderswo. Wir haben nicht die gleiche Chance, an die Uni zu gehen, wir haben keinen Zugang zu besseren Jobs und nicht dieselbe Möglichkeit, vernünftige Wohnungen zu bekommen. In Orten wie Trappes hat man nicht das Gefühl, dass sich republikanische Brüderlichkeit konkret zeigt. Wenn arme und wohlhabende Städte nicht mehr zusammenhalten, bricht auch die kommunale Solidarität weg.

Es gibt nichts Schlimmeres, als dass die großen Versprechen der französischen Nation nicht eingehalten werden. Und das ist es meiner Meinung nach, was Frankreich seit mehreren Jahrzehnten schmerzt. Viele Franzosen, deren Eltern, Großeltern oder Urgroßeltern nach Frankreich gekommen sind, fühlen sich deshalb ausgegrenzt. Und die frustrierten und enttäuschten Kinder der Republik wenden sich manchmal gegen sie. Das ist ein kollektives Unglück.

Was müsste geschehen, damit sich das ändert?

Damit die Republik auch in den Banlieus wieder auflebt, brauchen wir hier gute Lehrerkräfte für unsere Schulen. Erfahrene Kräfte, die schon seit 20 oder 30 Jahren unterrichten; keine jungen Erwachsenen, die gerade erst ihren Universitätsabschluss gemacht haben und sich kaum auskennen. Aber das System, nach dem die Lehrkräfte verteilt werden, funktioniert so nicht. Die guten Pädagoginnen und Pädagogen landen meist anderswo.

Und wer verkörpert den Staat an allererster Stelle, wenn es Probleme gibt? Die Polizei. In Trappes haben wir für neun Bezirke abends und nachts oft nur einen Streifenwagen. Eine Streife! Wir brauchen mehr Fahrzeuge und vor allem auch mehr Polizistinnen und Polizisten, damit es in unseren Städten auch so sicher ist wie in Paris oder Versailles.

Dafür zu sorgen, dass die Republik vor Ort ist, bedeutet aber auch, dass zivilgesellschaftliche Organisationen, Vereine, Volkshochschulen und Nachhilfetreffen unterstützt werden, damit alle, vor allem die Kinder, die gleichen Chancen und Möglichkeiten bekommen.

Die letzten Zeichen der Regierung gingen eher in eine andere Richtung. Der Fokus liegt auf der unmittelbaren Terrorismusbekämpfung, und selbst da geht es gegensätzlich zu: Nach dem Mord an Samuel Paty rief Präsident Macron noch dazu auf, man müsse unbedingt zwischen Islamismus und dem Islam unterscheiden. Dann erklärte sein Innenminister Gérald Darmanin das Collectif Contre l'Islamophobie en France, eine der größten französischen NGOs, die sich gegen Islamophobie einsetzt, ohne besonderen Grund zu "Feinden der Republik" und kündigte deren Verbot an. Was macht das mit der Bevölkerung?

Auf Französisch nennt man das "triangulation" - wenn also ein und dieselbe Partei radikal unterschiedliche Wählergruppen ansprechen will und die verschiedenen Rollen entsprechend verteilt. Macrons Unterscheidung ist wichtig für eine gemäßigtere Wählerschaft, insbesondere Muslime. Und dann sagt der Innenminister, er finde es nicht normal, dass es im Supermarkt eigene Lebensmittelregale für Muslime gibt - und sendet damit ein Signal an rechtsextreme Wähler. Seit Jahrzehnten gibt es Abteilungen mit koscheren und Halal-Speisen - das hat in diesem Land noch niemanden gestört. Und das ist kein Separatismus. Das sind keine Bombenanschläge, das ist kein Islamismus.

Wenn ein Minister solche Dinge sagt, tut er das nicht, um die Bevölkerung zu besänftigen oder um ein Problem zu lösen. Denn was die Menschen in Frankreich essen, ist kein Problem. Diese Strategie ist unverantwortlich und unwürdig. Sie fährt das Land direkt gegen die Wand. Denn statt Spannungen abzubauen und zu überwinden, gießt sie Öl ins Feuer und hetzt die Franzosen gegeneinander auf. Das ist eine kalkulierte Entscheidung der Regierung. Es wäre gut für Politikerinnen und Politiker aller Seiten, dem Druck der extremen Rechten zu widerstehen. Stattdessen lassen sie die Republik im Stich und jagen rechtsextremen Wählerinnen und Wählern nach. Das ist es, was mich beunruhigt.

Spielen muslimische Organisationen und Interessenvertreter in dieser Debatte denn keine Rolle?

Aktuell ist die Diskussion in Frankreich so toxisch, dass es keine legitime muslimische Stimme gibt. Die Muslime neigen eher dazu, den Kopf zu senken und gar nichts mehr zu sagen. Bei meinem Vater ist das beispielsweise so. Ich bin ein Kind marokkanischer Gastarbeiter. Ich bin Franzose, ein gewählter Vertreter der Republik. Aber mein Vater ist ein Arbeiter, ein bescheidener Mensch mit Migrationshintergrund, der in den 1970er Jahren nach Frankreich eingewandert ist. Er hat mir kürzlich erzählt, dass er nur noch auf den Boden schaut, wenn er rausgeht, um einzukaufen.

Mein Vater ist genauso entsetzt über die Anschläge der vergangenen Wochen wie wir alle. Und er hat auch selbst Angst, Opfer eines Angriffs zu werden, zum Beispiel in der Moschee, in die er geht. Ihm geht es also wie so vielen der 66 Millionen Franzosen. Der Unterschied ist, dass ihm als Muslim gerade das Bild vermittelt wird, er sei mitverantwortlich für das, was passiert. Dabei hat er sich überhaupt nichts zuschulden kommen lassen, hat 50 Jahre lang in Frankreich gelebt, gearbeitet, das Land mit aufgebaut, hat immer für wenig Geld hart geschuftet. Aber mein Vater hält den Kopf unten, weil er sich schuldig fühlt.

Wird Islamophobie in einem solchen Klima noch ernst genommen?

Nein, in Frankreich leugnen wir diese Tatsache. Selbst unter Linken streiten wir uns über Begrifflichkeiten - sollten wir antimuslimischer Rassismus oder Islamophobie sagen? Das ist lächerlich. Wir vergeuden damit nur Zeit, statt uns mit der Realität auseinanderzusetzen, dass auch hier Muslime diskriminiert werden. So, wie es einen spezifischen Rassismus gegen Juden gibt, einen spezifischen Rassismus gegen Schwarze, gibt es auch einen zunehmenden spezifischen Rassismus gegen Muslime.

Und leider ist Frankreich eines der Länder, in denen diese Debatte die Eliten kontaminiert. Inzwischen gibt es eine ganze Reihe von französischen Journalisten, Politikern, Kolumnisten, Kommentatoren des politischen Lebens, die sich ganz ins Lager der Ideen geschwungen haben. Auch deshalb wird Islamophobie verharmlost.

Sie wurden politisiert, als der Parteichef des rechtsextremen Front National, Jean-Marie Le Pen, es 2002 in die letzte Runde der Präsidentschaftswahl schaffte. Seiner Tochter Marine gelang dasselbe im Jahr 2017, bei der kommenden Wahl 2022 stehen sich wahrscheinlich wieder Le Pen und Macron gegenüber. Was hat sich verändert?

Als ich als junger Mann bei meiner ersten Demonstration gegen Jean-Marie Le Pen teilgenommen habe, waren drei Millionen von uns auf der Straße, um gegen die extreme Rechte zu demonstrieren. Jetzt ist die extreme Rechte alltäglich geworden, sie ist bei allen Präsidentschaftswahlen präsent, qualifiziert sich jedes Mal für die zweite Runde. Und auch andere Politikerinnen und Politiker benutzen den Islam jetzt als Wahlkampfargument.

Viele sind der Meinung, dass Macron es wieder darauf anlegt, gegen Marine Le Pen in die Stichwahl zu gehen, damit er trotz allem noch auf einen Sieg hoffen kann. Aber dieses kleine Spiel wird gefährlich, weil Le Pen im Jahr 2022 in der Lage sein wird zu gewinnen, falls sie es in die zweite Runde schafft. Nicht eine einzige Person hat demonstriert, als sie es 2017 so weit gebracht hat. Und niemand 2022 wird demonstrieren. Ich bin jetzt fast 36 Jahre alt. Ich bin Bürgermeister einer Stadt, und nach fast 20 Jahren politischen Engagements sehe ich, wie groß die Schäden in Frankreich sind und wie schlimm die Situation geworden ist.

Wie durchbricht man diese Spirale, in der rechtsextreme Parteien immer mehr in den Mainstream rücken?

Wir müssen an unseren Überzeugungen festhalten, indem wir den Kampf gegen diese rechten Kräfte anführen, selbst, wenn wir das als Minderheit tun. Und ich denke, wir werden sie letztendlich davon überzeugen, dass wir gar keine andere Wahl haben, als zusammenzuleben und gemeinsam voranzukommen. Islamophobie und Antisemitismus müssen wir anprangern, besonders auch in der Politik und in den Medien. Es gibt keinen anderen Weg.

Sie waren bereits viele Jahre erfolgreich in der nationalen Politik unterwegs - wäre das Parlament nicht ein besserer Ort, um solche systematischen Probleme anzugehen?

Als Bürgermeister kenne ich die Realität vor Ort viel besser, ich sehe sie jeden Tag und muss sie jeden Tag ertragen. Das ist etwas anderes, als wenn man hauptsächlich vor Fernsehkameras steht und Statements abgibt. Und ich will auch ein Beispiel dafür sein, dass es klappen kann.

Wir leben hier in Trappes sehr gut zusammen und das zeigt sich jeden Tag. Die Leute kommen aus allen Teilen Frankreichs, aus allen Ländern Europas und von allen Kontinenten der Welt. Wir haben hier 70 verschiedene Nationalitäten, und die Menschen sind glücklich darüber, hier zu leben - egal, was die Medien sagen. Trappes ist weit entfernt von den Phantasien, die bestimmte Politiker und Journalisten vermitteln wollen. Wir sind der beste Beweis, dass man gegen rechte Ideologien nicht machtlos ist.

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