Pandemie:Die große Schockwelle

Corona und der "Klassenkrieg": Wie der Film "Hold-up" in Frankreich Stimmung gegen Politiker und Pharmaunternehmen macht.

Von Nadia Pantel

Gleich zu Anfang meldet sich das Coronavirus selbst zu Wort. Gezeichnet als muntere Comicfigur mit großen Kulleraugen wendet es sich an die Weltbevölkerung. "Beruhigt euch mal", sagt das Virus. Es sei eine Frechheit, seinen "Namen mit dem Tod zu assoziieren". In den folgenden zwei Stunden und 45 Minuten beruhigt sich dann allerdings niemand mehr. "Hold-up" nennt sich der französische Film, der als Dokumentation daherkommt und die aktuelle Pandemie als von dubiosen Mächten geplante Vernichtung der Menschheit beschreibt. Der Film gipfelt in einem Statement der anerkannten Soziologin und Trägerin des Ordens der Ehrenlegion Monique Pinçon-Charlot. Das Coronavirus sei Teil eines "Klassenkrieges", ein "Holocaust" werde organisiert, "um die Ärmsten der Welt zu vernichten".

Der Film fühlt sich weder Fakten noch ausgewogener Recherche verpflichtet

Nicht nur wegen des Pinçon-Charlot-Interviews hat der Film Politiker in Medien schockiert - und andere Teile der Öffentlichkeit fasziniert. "Hold-up" arbeitet mit der Optik eines Dokumentarfilms. Experteninterviews, Befragung Betroffener, erklärende Grafiken. Doch er fühlt sich weder Fakten noch ausgewogener Recherche verpflichtet. Seit der Film am 11. November veröffentlicht wurde, arbeiten französische Nachrichtenredaktionen daran, seine Lügen aufzudecken. Eine schwierige Aufgabe, da der Film berechtigte Kritik an den Regierungsmaßnahmen zur Eindämmung der Pandemie mit Verschwörungstheorien mischt. So wird nachgezeichnet, wie die Regierung im März und April daran scheiterte, Krankenhauspersonal vor dem Virus zu schützen, weil von den verantwortlichen Behörden nicht genügend Schutzkleidung eingelagert worden war. Der Film hält sich jedoch nicht lange mit solcher Detailkritik auf: Pharmaunternehmen und Regierungen hätten "die Menschheit in Geiselhaft" genommen. Das Coronavirus sei nicht gefährlicher als die Grippe und werde als Vorwand genutzt, um die Macht "der Eliten" auszubauen.

Produziert wurde der Film von dem früheren Journalisten Pierre Barnérias, er ist im Netz frei verfügbar. Die Finanzierung setzt sich aus privaten Spenden zusammen. Auf der französischen Crowdfundingplattform Ulule wurden für das Projekt innerhalb weniger Wochen 200 000 Euro gesammelt. Ulule distanziert sich inzwischen von dem Projekt, es entspreche nicht den Qualitätsstandards der Plattform und sei "durchgerutscht".

Der Film hat seinen Erfolg und seine Entstehung auch führenden Köpfen der sogenannten Gelbwesten zu verdanken. So wurde die Crowdfunding-Kampagne unter anderem von Maxime Nicolle unterstützt, dessen Profilen in den sozialen Medien Hunderttausende folgen. Die Gelbwestenbewegung protestierte im November 2018 für Steuersenkungen und für mehr soziale Gerechtigkeit. Die Gilets jaunes stellten zudem sehr grundsätzlich die Glaubwürdigkeit von Politikern und Medien infrage. Eine radikale Elitenkritik vermischte sich mit verschwörungstheoretischen, teils antisemitischen Ideen, die über Facebook-Gruppen rasant verbreitet wurden. Der Corona-Film "Hold-up" wurde nun allerdings nicht nur innerhalb der verbliebenen Anhängerschaft der Gilets jaunes geteilt und empfohlen, sondern zum Beispiel auch von der bekannten französischen Schauspielerin Sophie Marceau.

Die Macher können jetzt mit großen "Zensur"-Stempeln für den Film werben

Die Kritik an dem Film nehmen seine Macher zum Anlass, mit einem großen "Zensur"-Stempel zu werben, der nun auf den Werbebildern prangt. Vimeo und Youtube hatten den Film aus ihrem Angebot entfernt, allerdings existieren inzwischen so viele Kopien des Films, dass er immer wieder von verschiedenen Nutzern hochgeladen wird. Auch die großen französischen Medienhäuser verbreiten bei ihrer Berichterstattung über den Film Ausschnitte aus "Hold-up". Darunter das Interview mit Pinçon-Charlot, in dem sie die Corona-Pandemie mit dem Holocaust vergleicht.

Pinçon-Charlot distanziert sich inzwischen von dem Film und von Teilen ihrer Aussage. Auch Philippe Douste-Blazy, Gesundheitsminister unter François Mitterrand, bereut seine Beteiligung an dem Film. Er sei "schockiert" von dessen verschwörungstheoretischem Ansatz. Kurze Statements von Douste-Blazy werden in dem Film genutzt, um den Eindruck zu erwecken, es gäbe eine unkomplizierte Heilung für Covid-19-Erkrankte, die Behandlung werde jedoch von der Regierung verweigert. Konkret geht es um das Mittel Hydroxychloroquin. Der französische Arzt Didier Raoult behauptete zu Beginn der Pandemie, er erziele bei Covid-Patienten mit diesem Mittel spektakuläre Erfolge. Klinische Studien belegen diese Aussage nicht. Der frühere Minister Douste-Blazy fordert nun, dass seine Interviewschnipsel aus "Hold-up" entfernt werden.

Gleichzeitig hält Douste-Blazy an seiner Kritik am Krisenmanagement der Regierung fest. "Die ergriffenen Maßnahmen werden nicht genug erklärt", so Douste-Blazy. Die Verschwörungstheorien seien "fürchterlich". Doch ihr Erfolg hänge auch mit "mangelnder Transparenz und mangelnder Kommunikation" seitens der Regierung zusammen.

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