Formel-1-Weltmeister Lewis Hamilton:Der Botschafter

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Lewis Hamilton nach seinem siebten Titelgewinn

(Foto: Getty Images)

Auch nach seinem siebten Weltmeistertitel wird Lewis Hamilton der Formel 1 wohl erhalten bleiben. Als dominanter Sportler - und politischer Rennfahrer.

Von Philipp Schneider

Hände. Überall Hände. Hände und die dazugehörigen Arme griffen nach dem Rennfahrer nach diesem hundsgemeinen Rennen. Arme umschlangen seinen Rücken, Hände tätschelten ihn am Kopf. Armer Lewis Hamilton!

Oben auf dem Podium stand ja sein Teamkollege, der es noch irgendwie auf den zweiten Platz geschafft hatte und sich nun von denjenigen Händen, die gerade nicht Hamilton trösteten, auch noch beklatschen ließ. Zweiter Platz, das hieß jetzt: Der Kollege würde beim Saisonfinale doch noch Chancen haben, Weltmeister zu werden, weil es Hamilton gerade verpasst hatte, den Titel zu sichern. Auf dem direkten Weg in die Geschichtsbücher war er zweihundert Meter vor der Box in das weithin einzige Kiesbett gerutscht. Mit abgefahrenen Hinterreifen. Kein Grip mehr. Abflug!

Der Große Preis von China 2007. Lewis Hamiltons erste Saison in der Formel 1. Er: Ein Rookie im McLaren, an der Seite des zweimaligen Weltmeisters Fernando Alonso. 13 Jahre ist das nun her. Exakt dieser Ausritt stieg Hamilton am Sonntag in den Sinn, als er die ersten Fragen gestellt bekam, nachdem er vorzeitig die Weltmeister-Weihen entgegen nahm beim Großen Preis der Türkei. Im Moment des Gewinns seines siebten Titels dachte er an jenen Augenblick, in dem er seinen potenziell ersten verlor: Wegen eines verdammten Reifens, den er so lange geritten hatte, bis er sich nicht mehr beherrschen ließ. "Ich habe meine Lektion aus dem Jahr 2007 gelernt", sagte Hamilton am Sonntag. Diesmal habe er gewusst: "Ich habe es unter Kontrolle! Und das sogar, wenn es wieder anfangen sollte zu regnen."

Der Reifen am Sonntag sah exakt so profillos und poliert aus wie der vor 13 Jahren. Der Unterschied war also tatsächlich: die Lektion. Des Rennfahrers Wissen um die Grenzen des Materials. Sein Gefühl für den Moment, ab dem ein Auto nicht mehr rollt, sondern rutscht. Am Sonntag ist Hamilton weitergefahren, immer weiter. Er hat sich auf der regennassen Strecke in Istanbul keine neuen Pneus anschrauben lassen. Und hat sich trotzdem nicht sechsmal gedreht wie sein Teamkollege Valtteri Bottas auf frischeren Reifen. Sondern: gar nicht. So schaffte er es nach vorne, von Startplatz sechs zum Rennsieger. Welch fruchtbare Lektion von 2007. Und was für eine Vorlage, um sich im Moment des Triumphs ein wenig selbst zu überhöhen. "Ich war schon vorher gut im Regen. Aber ich bin noch nie auf Eis gefahren", sagte Hamilton.

Lewis Hamilton sei "wie ein Schwamm", hat Toto Wolff mal gesagt, sein Teamchef bei Mercedes. Er sauge alles auf, lerne noch immer dazu, werde mit jedem Jahr besser. Motorsport ist physisch anspruchsvoll, aber doch kein Turnen, kein Sport für gut gedehnte Zwanzigjährige. "Ich denke nicht, dass ich in meinen Vierzigern noch hier bin, aber ich bin erst 35. Ich fühle mich jung und frisch", sprach er also, nachdem er an Titeln gleichgezogen war mit dem Rekordweltmeister Michael Schumacher. Unterschrieben hat er zwar noch nicht für kommendes Jahr. Aber er will weiterfahren, er hat noch Lust. Der Schwamm kann noch saugen, ist praller als im Frühjahr - wer also soll ihn 2021 stoppen?

Hamiltons Auto wird es schon mal nicht sein, das der Konkurrenz diesen Dienst erweist. Im kommenden Jahr werden die Silberpfeile weiter über-, die Ferraris noch immer hoffnungslos unterlegen sein. Die Schwäche der roten Autos mit den schwarzen Pferdchen ist ihr Motor. Die umfassende Formel-1-Reform, die zumindest die Chassis gravierend ändern wird und so das Kräfteverhältnis ins Wanken bringen könnte, ist um ein Jahr verschoben worden auf 2022. So wird 2021 zu einem Übergangsjahr, in dem die Teams gedanklich mindestens so sehr mit der Entwicklung des zukünftigen Autos befasst sein werden wie mit dem Steuern des gegenwärtigen.

Die Hoffnung auf mehr Spannung in der Formel 1

Das gilt sogar für Fernando Alonso. Hamiltons Teamkollege in seinem Rookie-Jahr (der 2007 trotz Hamiltons Ritt ins Kiesbett nicht Weltmeister wurde, weil er sich ein Rennen später Kimi Räikkönen im Ferrari geschlagen geben musste) kehrt im Frühjahr nach zwei Jahren Abenteuern jenseits der Formel 1 zu Renault zurück, wo er zwei Weltmeisterschaften gewann. Mit Wucht angreifen wird Alonso Hamilton dann aber auch nicht sofort. Sagt sogar Cyril Abiteboul, der Teamchef bei den Franzosen: "Es geht alles um 2022, er hat fast kein Interesse an 2021."

Die Hoffnung auf mehr Spannung in der Formel 1 ist nun diese: Die Fahrzeuge von 2022, um die es allen geht, werden im kommenden Jahr mit weit geringeren Budgets entwickelt werden, als ursprünglich und noch vor Ausbruch der Pandemie geplant. Der Siegeszug des Coronavirus und die damit verbundenen Einnahme-Einbußen aller Teams im Seuchenjahr 2020 brachte die Allianz der Besserverdiener in der Formel 1 ins Grübeln: Sie stimmten der Einführung eines Kostendeckels zu, der niedriger ausfiel als geplant. 2021 wird das Budgets aller Mannschaften auf 145 Millionen Dollar gedrückt. Für die kleineren Teams wie Aston Martin, wo Sebastian Vettel künftig unterschlüpft, ist die Entwicklung der neuen Fahrzeuggeneration also eine enorme Chance, um endlich aufzuschließen zu Mercedes, Red Bull und Ferrari. Für die großen Drei wird der Sparkurs auch mit Personalabbau und Gehaltskürzungen einher gehen. Und Lewis Hamilton könnte sich die legitime Frage stellen: Sollte ich nun unterschreiben bei Mercedes - wie lang sitze ich dort noch im besten verfügbaren Auto?

Zweifel daran, dass er verlängern wird bei Mercedes bestehen eigentlich keine mehr. Daran ändern auch die Überlegungen des Automobil-Weltverbands Fia nichts, eine Grenze für Fahrergehälter einzuführen, die bislang ausgenommen sind vom Budget-Deckel. Denn diese böten eher noch einen Anreiz zur möglichst zeitnahen Unterschrift. "Ich habe das Gefühl, dass es gerade erst beginnt, es ist ganz komisch", sagte Hamilton in Istanbul.

Und auffällig war, wie sehr er über jene Aspekte sprach, die auf eine vertragliche Übereinkunft mit seinem Arbeitgeber für die Zeit nach der aktiven Karriere hindeuteten. Hamilton, der sich in diesem Jahr politisiert und aufgeschwungen hat zum Frontmann der Black-lives-matter-Bewegung, will sich verstärkt dafür einsetzen, "dass sich unser Sport seiner Verantwortung bewusst ist". Außerdem: Verletzungen der Menschenrechte sollte "entschlossen entgegentreten werden" - ein Vorhaben, das ja durch den ersten Besuch der Formel 1 im Folterstaat Saudi Arabien im kommenden Jahr zunächst einmal konterkariert zu werden scheint. Grundsätzlich, sagte Hamilton, brauche die Formel 1 Veränderungen. "Nicht in zehn Jahren oder in zwanzig, sondern jetzt. Und ich will Mercedes und der Formel 1 bei dieser Reise zur Seite stehen."

Das klang nicht nach den Abschiedsworten eines siebenmaligen Weltmeisters. Eher nach einem zukünftigen Markenbotschafter, der die Lust verspürt, vorher noch ein paar Jahre zu fahren, um alleiniger Rekordweltmeister zu werden. Mindestens einen Titel wird der Schwamm noch gerne aufsaugen.

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