Klimawandel:Grönland schmilzt schneller als gedacht

Jakobshavn Isbræ Glacier

Der schmelzende Gletscher Jakobshavn Isbræ lässt eine Seelandschaft zurück. Die Verfärbungen zeigen, wie weit das Eis im Jahr 1875 reichte.

(Foto: Shfaqat Abbas Khan/DTU Space Denmark)

Wissenschaftler vermuten, dass die Gletscher deutlich mehr Eis verlieren könnten als Klimamodelle bislang vorhergesagt haben.

Von Julian Rodemann

An den Rändern des grönländischen Eisschilds lässt sich von Zeit zu Zeit ein beeindruckendes Naturschauspiel beobachten. Hier trifft das gefrorene Süßwasser auf den Ozean; das Grönlandeis schiebt sich über seine Auslassgletscher ins Meer hinaus. Teilweise mehrere Kilometer breite Gletscherzungen schwimmen dann auf dem Wasser, ohne sich vom Eis an Land abzutrennen. An der Zungenspitze brechen schließlich riesige Eisberge ab - die Gletscher "kalben", wie Glaziologen sagen, sie verlieren große Eismassen, die durch Fjorde oder aufs offene Meer hinaustreiben.

Die Gletscherzungen schmelzen überdies langsam an der Unterseite, weil sie in Kontakt mit wärmerem Meerwasser kommen. Einer der größten Gletscher im Nordosten der Insel mit dem herausfordernden Namen Nioghalvfjerdsfjorden verliert dadurch pro Jahr im Schnitt sieben bis 13 Meter Eis, wie Forscher um Janin Schaffer Anfang des Jahres in einer Studie im Fachblatt Nature Geoscience berichteten. Im August hatten zwei weitere Studien für Aufsehen gesorgt, denen zufolge das immer schnellere Abschmelzen des Grönlandeises bereits den "Point of no return" überschritten haben könnte - also sogar weitergehen würde, wenn sich die Erderwärmung sofort stoppen ließe.

Fest steht laut Weltklimarat IPCC, dass der grönländische Eisschild von 2007 bis 2016 gegenüber dem Zeitraum von 1997 bis 2006 etwa doppelt so viel Eismasse verloren hat. Mittlerweile trägt die Eisschmelze auf Grönland stärker zum Meeresspiegelanstieg bei als die der Antarktis - obwohl deren Eismasse mehr als zehnmal so groß ist. Etwa ein Viertel des jährlichen Anstiegs des Meeresspiegels lasse sich gegenwärtig auf Grönland zurückführen, schreiben Schaffer und Kollegen in Nature Geoscience.

Weil das spektakuläre "Kalben" häufiger und starker Schneefall, der die Gletscher im Landesinneren speist, seltener wird, schrumpfen die Auslassgletscher immer schneller. Nur: Wie schnell genau? Diese Frage beeinflusst ganz maßgeblich, wie hoch der Meeresspiegel Ende dieses Jahrhunderts sein wird - und ob Inselstaaten und so manche Küstenstadt dann noch existieren würden. Um sie zu beantworten, ziehen Wissenschaftler Temperaturmessungen und Satellitenbilder aus der Vergangenheit heran und schätzen anhand dieser Daten, wie sich die Gletscher in Zukunft entwickeln werden.

"Der bisherige Verlust ist nur ein kleiner Teil dessen , was wir in diesem Jahrhundert erwarten."

In einer neuen Studie in Nature Communications haben Forscher um Shfaqat Khan von der Technischen Universität Dänemarks (DTU) die drei größten Auslassgletscher Jakobshavn Isbræ, Kangerlussuaq und Helheim näher untersucht. Sie allein enthalten genug Eis, um den Meeresspiegel um etwa 1,3 Meter steigen zu lassen. Khan und sein Team kommen zu dem Ergebnis, dass die drei Riesengletscher seit 1880 beinahe 3000 Gigatonnen, also drei Billionen Tonnen, Masse verloren und sieben bis neun Millimeter zum Anstieg des Meeresspiegels beigetragen haben. "Das Ausmaß dieses Eisverlusts ist schwer zu fassen", sagt William Colgan, Co-Autor der Studie. "Doch unsere Hauptsorge ist, dass die Gletscher so viel Eis als Reaktion auf eine klimatische Veränderung verloren haben, die nur ein kleiner Teil dessen ist, was wir in diesem Jahrhundert erwarten." Mit anderen Worten: Das Schlimmste steht erst noch bevor.

Und es könnte schlimmer kommen als bisher prognostiziert. Die gängigen Klimamodelle könnten den Eisverlust Grönlands und den Anstieg der Meeresspiegel deutlich unterschätzen, schreiben die Wissenschaftler. Sie verdeutlichen das mit einer simplen Rechnung: Im "RCP8.5"-Szenario des IPCC, auch "Weiter-so-wie-bisher"-Szenario genannt, bei dem die globalen CO-Emissionen ungebremst weiter zunehmen, würde sich Grönland bis 2100 um sechs bis zehn Grad Celsius erwärmen. Die nördliche Polarregion erwärmt sich deutlich stärker als der Rest der Welt. Eisflussmodelle suggerieren, dass infolgedessen Jakobshavn Isbræ, Kangerlussuaq und Helheim bis 2100 den Meeresspiegel um neun bis 15 Millimeter steigen lassen würden. Zur Erinnerung: Im vergangenen Jahrhundert sorgte das Abschmelzen dieser Gletscher dafür, dass die Pegel bereits um sieben bis neun Millimeter anstiegen - bei einem Temperaturanstieg von "nur" 1,5 Grad.

Die Forscher griffen auf alte Luftaufnahmen und historische Fotos früher Expeditionen zurück

Es sei wahrscheinlich, dass sich diese Unterschätzung nicht nur auf die drei untersuchten Gletscher beschränkt, schreiben die Autoren. Dann ginge es nicht nur um Millimeter. Man geht davon aus, dass das Abschmelzen des gesamten Eises in Grönland zu einem Meeresspiegelanstieg von etwa 7,4 Metern führen würde. Natürlich sind die Modellrechnungen der Forscher mit Unsicherheiten behaftet, und auf welche Teile der hochkomplexen Eiswelt Grönlands jenseits der drei Riesengletscher sie sich wirklich übertragen lassen, ist fraglich. Dennoch zeigt allein die Größenordnung der Schätzungen, dass das Eis schneller schwindet als befürchtet.

Möglich wurden die genaueren Berechnungen durch Daten, die bis ins 19. Jahrhundert zurückreichen. Bisher hatten Forscher den Verlauf der Gletscher lediglich für die vergangenen 50 bis 60 Jahre rekonstruiert. Khan und Kollegen griffen dazu neben modernen Satellitenbildern auf alte Luftaufnahmen und historische Fotos früher Expeditionen zurück. "Es war eine aufwendige und aufregende Detektivarbeit", wird Khan in einer Mitteilung der DTU zitiert. Mithilfe der Fotos erstellten die Forscher digitale 3-D-Höhenmodelle, sagt Khan. Deren Unsicherheit beziffert der Professor für Geodäsie mit zehn bis zwanzig Metern. Das wirkt viel im Vergleich zu zentimetergenauen Satellitenaufnahmen von heute. Doch bei einer Gletscherdicke von 500 bis 700 Metern und Zeiträumen über 100 Jahren, so Khan, sei das kein Problem.

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