Nachhaltigkeit:Zeit für die Kiste

Packstation Isarland Ökokiste, Taufkirchen. Corona-Umsatzrekord beim Geschäftsmodell Bio-Kiste

Obst und Gemüse in Kisten sind gerade besonders gefragt. Seit Beginn der Pandemie hat Isarland 7000 neue Transportkisten gekauft.

(Foto: Florian Peljak)

Gemüsekisten sind in der Corona-Krise sehr beliebt. Die Menschen sind zu Hause und haben mehr Zeit, sich über Ernährung Gedanken zu machen. Kleine Lieferbetriebe bringt das an ihre Grenzen.

Von Helena Ott

Die große Halle in Taufkirchen bei München würde für ein Wimmelbild gut taugen. Mitarbeiter rollen Kisten voll Obst und Gemüse in allen Farben heran und stellen sie in kreisförmig angeordneten Regalen ab. In der Mitte steht Lea Hofmann vor einer Waage und packt Kürbis, Rote Bete, Äpfel und Lauch in grüne Kunststoffkisten - erst die schweren Sachen. Im Display leuchtet ein Balken grün auf, wenn das Gewicht passt. Dann schiebt sie die Kiste auf einem Rollband Richtung "Waage Zwei". Dort steht ihre Kollegin Tanja Scarlett und füllt mit Trauben, Paprika und Feldsalat auf. Scarlett, 51 Jahre alt, ist eine von fast 100 neuen Mitarbeitern, die der Betrieb Isarland Ökokiste in den vergangenen acht Monaten eingestellt hat.

Die Corona-Pandemie hat die deutsche Wirtschaft wie einen fahrenden Zug bei voller Geschwindigkeit gebremst. Vereinzelte Unternehmen verpasst sie aber einen Schub nach vorn. Im Fall der Isarland Ökokiste war das sogar ein gewaltiger Schub, kleine Betriebe kann das schon mal ins Schlingern bringen. Für Nicole Göhring, Geschäftsführerin der Isarland Ökokiste, bedeutete der erste Lockdown ein Wechselbad zwischen Überforderung und Motivationshigh. Seit dem Frühjahr wollen 1800 zusätzliche Haushalte eine Gemüsekiste geliefert bekommen - das ist ein Plus von 30 Prozent.

Packstation Isarland Ökokiste, Taufkirchen. Corona-Umsatzrekord beim Geschäftsmodell Bio-Kiste

Nicole Göhring, 41, und der Abteilungsleiter für die Packstationen, Torsten Gauer.

(Foto: Florian Peljak)

Das Taufkirchner Blitzwachstum ist kein Einzelfall, Gemüsekisten deutschlandweit berichten von Umsatzrekorden und Aufnahmestopps für Neukunden. Symptome der verordneten Virusbekämpfung: Gegessen wird wieder zu Hause; statt in Kantinen, Restaurants und Imbissen. Und der Mensch sehnt sich nach Sicherheit, manche suchen sie jetzt vermehrt in regionalem Biogemüse, das bis vor die Haustür geliefert wird. Die Nachfrage nach Bio-Lebensmitteln stieg in den ersten Pandemiemonaten laut einer Auswertung der Gesellschaft für Konsumforschung (GfK) "deutlich stärker" als der restliche Lebensmittelhandel. Ein Grund ist auch das Plus im Haushaltsbudget jener, die nicht von Kurzarbeit und Arbeitslosigkeit betroffen sind. Wer nicht mehr in den Urlaub fahren und nicht mehr ins Restaurant gehen kann, der spart Geld.

"Wir sind regelrecht überrannt worden", sagt Nicole Göhring. Eine Woche, nachdem die Bundeskanzlerin den ersten Lockdown verkündet hatte, konnten sie bei Isarland keine neuen Kunden mehr aufnehmen. Sie brauchten mehr Mitarbeiter. Zwei Kollegen aus dem Führungsteam führten im Akkord Video-Vorstellungsgespräche. Aus 90 Mitarbeitern sind Stand November 190 geworden: neue Fahrer, Packer und Logistiker. Unter ihnen Menschen, die vor der Pandemie als Flugbegleiter, Köche oder Veranstaltungstechniker gearbeitet haben.

Tanja Scarlett ist eigentlich Produzentin in einer Münchner Konzerthalle. Gegen die kühle Luft in der Halle hat sie sich im Zwiebellook angezogen. Ihr Mann ist DJ und arbeitet jetzt ebenfalls fachfremd. Manchmal bedient er die Waage neben ihr. Sie seien "superfroh" über den Aushilfsjob, sagt Scarlett, "mit über 50 findest du nicht so leicht noch mal was Neues".

Packstation Isarland Ökokiste, Taufkirchen. Corona-Umsatzrekord beim Geschäftsmodell Bio-Kiste

Das Display auf der Waage zeigt Tanja Scarlett, 51, wie viel Gemüse sie in die grünen Leihboxen legen muss.

(Foto: Florian Peljak)

So sehr sich Nicole Göhring über die neuen Kunden freut, kennt sie nun auch den Wachstumsschmerz - wenn alles etwas zu schnell geht. An manchen Tagen verteilte die Wirtschaftsingenieurin kurz vor Mitternacht noch Tee und Süßigkeiten an die Mitarbeiter, weil die Lieferungen für den nächsten Morgen bis spät in die Nacht fertig gepackt werden mussten. Als Schulen und Kitas geschlossen waren, betreute ihr Mann die beiden Kinder zu Hause im Home-Office. Die 41-Jährige arbeitete in den vergangenen Monaten so viel wie nie, seit sie vor 15 Jahren ihr erstes Praktikum bei Isarland gemacht hat.

Jochen Saacke ist Vorstand des Verbands Ökokiste. Er glaubt, dass die Pandemie "Stein des Anstoßes" ist: Für Verbraucher, die schon länger mit dem Gedanken spielten, sich nachhaltiger zu ernähren, sei jetzt der richtige Zeitpunkt, es auszuprobieren. Saacke hält regelmäßigen Kontakt zu 40 Betrieben, die Bio-Obst und -Gemüse in ganz Deutschland vor Haus und Wohnungstüren liefern. Aus allen Richtungen kämen Rekordmeldungen: 30 Prozent neue Kunden, 50 Prozent mehr Umsatz.

Nachhaltigkeit: Wenn die Gefahr für die Gesundheit nicht so groß wäre, käme die Krise für Jochen Saacke "wie gerufen", es hätte nur etwas langsamer gehen können, sagt er.

Wenn die Gefahr für die Gesundheit nicht so groß wäre, käme die Krise für Jochen Saacke "wie gerufen", es hätte nur etwas langsamer gehen können, sagt er.

(Foto: privat)

Die Lieferdienste funktionieren alle nach einem ähnlichem Prinzip: Sie bekommen ihre Ware von regionalen Bio-Landwirten und Bio-Gärtnern, stellen die Kisten zusammen - und einmal in der Woche klingelt ein Fahrer bei den Kunden oder stellt die Kiste an einem vereinbarten Abstellort ab. Viele Bio-Kistenanbieter liefern auf Bestellung zusätzlich andere Lebensmittel, wie Brot, Nudeln, Milchprodukte und Bio-Putzmittel. Bei Isarland in Taufkirchen bestellt die Hälfte der Kunden eine Art Abo-Kiste, die anderen entscheiden im Onlineshop selbst, wie viele Karotten, Auberginen und Kartoffeln sie in ihrer Biokiste möchten.

Für die vorgeplanten Kisten werden regionale und saisonale Produkte bevorzugt, sagt Nicole Göhring. Kunden können aber auch auf der Internetseite des Betriebs rein regionale Kisten bestellen, mit Salat von einer Dachauer Bio-Gärtnerei oder Äpfeln von einem Obstbauern aus Baden-Württemberg. Bei 180 Kilometern ist aber Schluss. Alles darüber hinaus werde nicht als "regional" gekennzeichnet, sagt Göhring. Aber das heißt nicht, dass Isarland und viele der anderen Anbieter keine Bananen, Mangos und Avocados in die Kisten legen. Sie richten sich nach den Kundenwünschen. Auch diese internationalen Produkte sind Bio. Bei Isarland muss das Obst und Gemüse mindestens das EU-Bio-Siegel tragen, sagt Göhring. Ihr Unternehmen versucht aber, möglichst Bio-Ware mit strengeren Auflagen wie von Naturland, Demeter oder Bioland einzukaufen.

Packstation Isarland Ökokiste, Taufkirchen. Corona-Umsatzrekord beim Geschäftsmodell Bio-Kiste

In rein regionalen Kisten sind im Winter Rüben, Rote Bete, Salat, Lauch und Kartoffeln von Bauern aus einem Umkreis von höchstens 180 Kilometern.

(Foto: Florian Peljak)

Die Lieferstrecke aus Burkina Faso, Paraguay oder Ägypten wird dadurch nicht kleiner, aber die Ware kommt auf dem Frachtschiff und nicht per Flugzeug nach Deutschland. Die Entscheidung, ganz auf Südfrüchte zu verzichten, bleibt beim Kunden. Die Avocado etwa werde nach Berichten über die schlechte Klimabilanz weniger nachgefragt, sagt Göhring. Andere Konzepte wie das der "Solidarischen Landwirtschaft" sind da radikaler und setzen strikt auf eigenen Anbau oder auf Erzeugnisse von Bauern aus der direkten Umgebung. Die Mitglieder finanzieren die Landwirte, jeder zahlt seinen Beitrag unabhängig vom Ertrag der Ernte. Beide Konzepte haben ihre Berechtigung, findet Nicole Göhring, und beide fänden ihre Zielgruppe.

Bei Isarland wird auch auf die Vermeidung von Plastik und Lebensmittelabfällen geachtet. Gemüse und Obst liegen lose in der grünen Leihkiste, die mit einem Stück Altpapier ausgekleidet ist. Früchte mit Macken werden aussortiert, stehen aber nach jeder Schicht für die Mitarbeiter zum Mitnehmen bereit. Den Rest holen Fahrer der Münchner Tafel.

Der Kühlraum in der Halle in Taufkirchen hat sich inzwischen mit Stapeln fertig gepackter Kisten gefüllt, beschriftet nach Touren für die Fahrer am nächsten Morgen. Draußen ist es dunkel geworden. Vor dem großen Hallentor steht ein Holzschrank mit Safeverschluss bereit. Ein viereckiger Kasten Kundenvertrauen. Dort lagern anonymisiert 570 Schlüssel von Kunden, die tagsüber nicht zu Hause sind und ihre Kiste nicht selbst in Empfang nehmen können.

Ob sich all die Neukunden auch in der Post-Corona-Normalität halten lassen? Nicole Göhring ist zuversichtlich. Sie glaubt, dass sich viele an die Bequemlichkeit und den Geschmack gewöhnen.

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