Theater im Netz:"Zwei Felder, die sich noch nie grün waren"

Theater Augsburg

Die "Winterreise" mit besonderem Bühnenbild und Choreografie von Ricardo Fernando.

(Foto: Jan-Pieter Fuhr)

Das Staatstheater Augsburg beschäftigt seit Herbst eine Projektleiterin für digitale Entwicklung - als einziges Theater in Bayern und eins der wenigen überhaupt. Warum fremdelt das Theater noch immer mit der Digitalisierung?

Von Christiane Lutz

Das Versicherungsunternehmen hat einen. Das Museum auch. Die Zeitung, für die dieser Text entsteht, hat sogar sehr, sehr viele: Menschen, die sich mit der Digitalisierung beschäftigen. Ausschließlich und bezahlt, seit Jahren ist das so. An deutschen Stadt- und Staatstheatern ist das nicht so. Erst seit dieser Spielzeit gibt es eine handvoll fester Stellen in dem hierarchischen Gefüge der Theater, etwa am Berliner Ensemble oder der Komischen Oper Berlin, die sich der Frage widmet, was Digitalisierung im Speziellen für die Kunst des Theaters bedeutet. Daher ist es an sich schon eine Nachricht, dass das Staatstheater Augsburg als einziges Theater in Bayern nun eine solche Stelle geschaffen hat. Tina Lorenz ist seit Herbst als "Projektleiterin digitale Entwicklung" dort angestellt.

"Wir machen Digitalisierung auf drei Ebenen", sagt Lorenz: "Erstens, die Kunst - also welche Formate können wir entwickeln, die im Internet funktionieren? Zweitens: die Verwaltung des Theaters, wie können wir hausinterne Planung digital erleichtern? Drittens: Kunstvermittlung, also wie bringen wir die Kunst digital da hin, wo sie hin soll?" Genauer festlegen will sie sich noch nicht, "wir erfinden den Job ja auch gerade erst neu".

Theater Augsburg Stream

Die Kommentare zum Stück auf der Streaming-Plattform Twitch. Es ist endlich Zeit, dass die Kunst dahin geht, wo die Menschen sind, finden die Verantwortlichen am Staatstheater Augsburg. Und die sind eben auch im Netz.

(Foto: Tina Lorenz)

Lorenz, 39, hat Theaterwissenschaft an der LMU München studiert und war im Chaos Computer Club aktiv - "zwei Felder, die sich noch nie grün waren." Zwanzig Jahre lang habe sie auf einen solchen Job gewartet, wie sie ihn jetzt hat. Momentan geht es am meisten um den ersten Punkt, die Kunst.

Das Theater ist zu, bleibt es wohl noch auf unbestimmte Zeit, wie also kann die Kunst zu den Menschen kommen? Ende Oktober übertrug das Theater die Premiere des Balletts "Winterreise" auf der Streaming- Plattform Twitch. Zwischendurch haben 2500 Menschen zugeschaut und kommentiert - Menschen, die vermutlich auf normalem Weg eher nicht bei dieser Premiere dabei gewesen wären. "Wenn wir als Theater den Auftrag ernst nehmen, uns an gesellschaftlichen Debatten beteiligen zu wollen, müssen wir auch da hin, wo sie sind", sagt Lorenz. Das nächste Projekt auf Twitch, die Mini-Serie "W - Eine Stadt sucht ihre Wohnung", startet am Montag, 23. November. Außerdem kann man am Staatstheater Augsburg Virtual-Reality-Brillen leihen und damit speziell dafür entwickelte Inszenierungen sehen. Ein Anfang, immerhin.

Deutsche Theater nutzen digitale Kanäle noch immer vor allem fürs Marketing. Lediglich das Schauspiel Dortmund, bis vergangenes Jahr unter der Leitung von Kay Voges, arbeitete ernsthaft mit digitalen Formaten auf der Bühne. Eigenen, für diese Kanäle erdachten künstlerischen Erzählformen wurde sonst bisher wenig Relevanz beigemessen, zu wenig Zeit und Geld in sie investiert. Aber die brauche es, ist Lorenz sicher, denn im Theater und im Internet gelten oft unterschiedliche Regeln. Was für das eine funktioniert, funktioniert noch lange nicht für das andere. Eine abgefilmte Inszenierung ist noch kein Digitalkonzept, sondern eine abgefilmte Inszenierung. Ein 30-sekündiges Video im Netz mag lustig sein, auf die Bühne übertragen wirkt es fehl am Platz.

Seit es Covid-19 gibt, ist das Versäumnis frappierend offensichtlich. Hektisch gebastelte Streams, ein paar mal mehr mal weniger unterhaltsame digitale Formate auf Instagram oder Youtube - so richtig viel Erwähnenswertes war nicht. Die Theater reagierten hilflos auf eine Pandemie, die ihr wichtiges Verkaufsargument, nämlich die Kopräsenz im Raum, einfach aushebelte.

Warum aber wird verschlafen, was in anderen Unternehmen zum Überleben zwingend ist? Hört man sich bei Theaterleuten um, scheint es eine Melange aus Gründen zu geben. Einen nennt Lorenz "das Problem der großen Tanker": eingefahrene Systeme, die Veränderungen im alltäglichen Stress nur schwer möglich machen. Wlan auf der Probebühne? Puh, das ist jetzt schon ein sehr spezieller Wunsch. Dann sei da ein noch gern gepflegtes Naserümpfen bezüglich Sozialer Medien und ein gewisser Elitarismus der Theaterleute und auch ihres Publikums. Eine sechsstündige Inszenierung auszuhalten, gilt als Leistung. Sein Handy rauszuholen und die Vorstellung im Netz nebenher zu kommentieren, das ist Daddeln, aber keine Kunst.

Theater Augsburg Stream

Tina Lorenz, ausgestattet für das nächste Twitch-Projekt.

(Foto: Thomas Herzog)

Die große Einigung darüber, was Theater ist, lautet seit Jahrzehnten: Alle sitzen in einem Raum, um 20 Uhr geht der Lappen hoch, und Menschen machen was. Oder, wie es Peter Brook in "Der leere Raum" ausdrückt: "Ein Mann geht durch den Raum, während ihm ein anderer zusieht". Kopräsenz über allem. Das ist ein Problem, findet auch der Regensburger Dramatiker Konstantin Küspert. Zweifelsohne ist das gemeinsame Live-Erlebnis wunderbar. Sich darauf zu beschränken aber ist kurzsichtig in Zeiten von immer härteren Kämpfen um öffentliche Gelder. Theater kann mehr sein als Vorhang hoch, wenn man die Möglichkeit erst mal zulässt und andere Wege ernst nimmt.

Küspert veröffentlichte kürzlich auf dem Theaterportal Nachtkritik einen Essay über TikTok, eine weitere digitale Spielfläche, auf der Menschen kurze Clips inszenieren. "Da kommen junge Leute spielerisch mit theatralem Handwerkszeug in Berührung und können ungezwungen das ganze Register an Zitaten, Kontext, Rekontextualisierung und Performance ausprobieren", sagt er. Ist das nicht auch Theater? "Und mal ehrlich: Welcher 16-Jährige geht freiwillig zu vier Stunden Dostojewski ins Schauspielhaus? Das ist totale Nische." Der 16-Jährige geht eher auf Tiktok. Die Theaterbauten stehen zwar an den besten Plätzen der Städte, aber nur ein Bruchteil der Menschen geht auch hin. Digitale Räume bespielen bedeutet aber auch, die Schwelle zur Kunst zu senken für Menschen, die, siehe das Winterreise-Projekt, sonst nicht mit ihr in Verbindung kommen würden.

Offensichtlich sei es ja leider nicht so, dass Theater unverzichtbar seien, auch wenn man das an den Häusern gern glauben würde. "Unverzichtbar ist das Theater für sehr wenig Menschen, dessen müssen wir uns bewusst sein", sagt Küspert. Um jeden Preis zurück zum prä-pandemischen Theater hält er deshalb für keinen guten Plan. Auch Tina Lorenz hofft, dass sie mit ihrer Arbeit an digitalen Theaterformaten am Staatstheater Augsburg das Theater ein wenig zukunftstauglicher machen kann und andere Häuser mit eigenen Ideen endlich nachziehen. Es ist allerhöchste Zeit, Krise hin oder her.

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