Covid-Infektionen in Pflegeheimen:Niemand rein, niemand raus

Coronavirus - Tübingen

Die Pflegekräfte schützen sich weiterhin mit FFP2-Masken. Als die Maskenpflicht für die Heimbewohner fiel, war das eine große Erleichterung.

(Foto: Sebastian Gollnow/dpa)

Die zweite Corona-Welle wütet in deutschen Pflegeheimen, das legen neue Zahlen nahe. Der Bund hat aber kein genaues Lagebild - und die Betreiber reagieren teils drastisch.

Von Lena Kampf, Teresa Roelcke und Rainer Stadler

Jüngste Meldungen aus deutschen Pflegeheimen: Im niedersächsischen Melle wurden 50 von insgesamt 75 Bewohnern positiv auf Corona getestet, in Neckargmünd bei Heidelberg waren es 67 von 91 Bewohnern. In einer Einrichtung im bayerischen Großwallstadt 39 von 41 Bewohnern, acht davon sind verstorben. In Berlin-Lichtenberg starben 15 Bewohner eines Pflegeheims, nachdem ein Corona-Ausbruch seit Anfang Oktober nicht unter Kontrolle zu bringen war. Das örtliche Gesundheitsamt entschied vergangene Woche, die Nicht-Infizierten zu evakuieren.

Heimbetreiber und Politiker beobachten die Entwicklung mit Sorge. Während der ersten Corona-Welle im Frühjahr hat sich gezeigt, dass gerade bei alten und gebrechlichen Menschen das Virus den größten Schaden anrichtet. Etwa die Hälfte der Todesfälle in Deutschland im Zusammenhang mit Corona waren in Pflegeeinrichtungen zu verzeichnen. Nun tobt die zweite Welle.

In weit mehr als 1000 der bundesweit etwa 12 000 Alten- und Pflegeheime gibt es aktuell Corona-Fälle. Das ergab eine Umfrage von Süddeutscher Zeitung, WDR und NDR unter den Gesundheitsministerien der Bundesländer. Demnach ist aktuell in Brandenburg jedes zehnte Heim betroffen, in Nordrhein-Westfalen jedes sechste, in Rheinland-Pfalz jedes fünfte. In Hessen haben 200 von gut 800 Pflegeeinrichtungen Corona-Infektionen gemeldet, also jedes vierte Heim.

"Die Fakten werden nicht zusammengetragen."

Die Gesamtzahl der bundesweit betroffenen Einrichtungen liegt sehr wahrscheinlich deutlich höher. Einige Bundesländer lieferten nur sehr unvollständige Zahlen. Berlin und Bayern machten gar keine Angaben. Dabei gibt es dort heftige Ausbrüche, sei es in Lichtenberg oder Steglitz, Augsburg oder Nürnberg. Baden-Württemberg weist nur eine Gesamtzahl der Infizierten in Sammelunterkünften aus, neben den Pflegeheimen also auch Asyl- und Obdachlosenunterkünfte sowie Justizvollzugsanstalten. In diesen Einrichtungen sind aktuell knapp zehntausend Menschen infiziert. Ein beträchtlicher Teil dürfte auf die knapp 1800 Pflegeheime des Landes entfallen.

Trotz der Bedeutung der Alten- und Pflegeeinrichtungen im Kampf gegen das Virus gibt es nicht nur in einzelnen Ländern, sondern auch auf Bundesebene keine exakten Zahlen zum dortigen Infektionsgeschehen. Das Robert-Koch-Institut weist sie nicht in seinen täglichen Situationsberichten aus. Selbst das Bundesministerium für Gesundheit (BMG) und der dort angesiedelte Pflegebevollmächtigte der Bundesregierung, Staatssekretär Andreas Westerfellhaus, verfügen nicht über ein genaues Lagebild in den Heimen. Eugen Brysch, der Vorstand der deutschen Stiftung Patientenschutz, klagt: "Zwar reden die Regierungschefs viel von den vulnerablen Gruppen, aber die Fakten werden nicht zusammengetragen. Im neunten Monat der Pandemie ist für Bund und Länder die Situation der hier lebenden und arbeitenden Menschen eine Blackbox."

Unbekannt ist zudem, wie viele Heimbewohner momentan isoliert werden. Trotz der Forderungen der Politik, die Heime in der zweiten Welle offen zu halten, sodass die Bewohner weiterhin von Angehörigen besucht und Therapiemöglichkeiten in Anspruch nehmen können, hat wieder ein beträchtlicher Anteil der Heime geschlossen.

Strenge Maßnahmen verhinderten nicht, dass 17 Bewohner starben

Laut dem Mainzer Verfassungsrechtler Prof. Dr. Friedhelm Hufen "ist der Beschluss von Kanzlerin Merkel und den Ministerpräsidenten, dass Heime offen bleiben sollten, noch nicht in Rechtsverordnungen umgesetzt und damit rechtlich nicht bindend". Für die Bundesarbeitsgemeinschaft der Seniorenorganisationen hat er gerade ein Gutachten vorgelegt. Dort führt er aus, welche Grundrechte die Schließung der Heime, Ausgangssperren und Isolation der Bewohner verletzen: die Menschenwürde, die freie Entfaltung der Persönlichkeit, die Ausübung von Religion, den Schutz von Ehe und Familie. Nur in einer Notsituation mit mehreren Infizierten sei es vertretbar, Pflegeeinrichtungen komplett zu schließen, warnt Hufen.

Die Heimbetreiber stehen vor dem Dilemma, die Sicherheit ihrer Bewohner garantieren zu müssen, ohne deren Freiheit zu sehr einzuschränken. Auch im Herbst wählen viele Heime den sicheren Weg und riegeln bei Ausbrüchen ab. Im Seniorenzentrum Laichingen, wo sich 46 von 79 Bewohnern mit Corona infizierten sowie 36 von 80 Mitarbeitern, verfügten die Behörden nicht nur ein Besuchsverbot. Sie ordneten auch an, dass die Bewohner vorübergehend in ihren Zimmern bleiben müssen. Die strengen Maßnahmen verhinderten nicht, dass 17 infizierte Bewohner starben. Eine Sprecherin des Heimträgers sagt, Kontaktnachverfolgungen hätten ergeben, dass sich einige Besucher des Heims nicht an das Abstands- und Maskengebot hielten. "Wir gehen davon aus, dass das Virus auch auf diesem Weg ins Heim gekommen ist."

Behörden und Heime reagieren völlig unterschiedlich auf Corona-Infektionen: Manche schließen Besucher kategorisch aus, andere verweigern zusätzlich den Bewohnern den Ausgang. In Delmenhorst verordnete die Stadt ein Besuchsverbot für alle Pflegeheime, als die Inzidenzwerte in der Stadt nach oben kletterten - zu einem Zeitpunkt, als sich noch kein Heimbewohner infiziert hatte.

Einheitliche Regeln sind in Arbeit

Viele Heime versuchen, ihre Türen offen zu lassen und sperren, wenn Corona-Fälle auftreten, nur die betroffenen Wohnbereiche ab. Bernhard Schneider, Hauptgeschäftsführer der Evangelischen Heimstiftung, sagt, das Grundrecht der Heimbewohner auf Teilhabe nehme Gesundheitsämter und Heimträger gemeinsam in die Pflicht. Für die 90 Heime der Stiftung wurden seit dem Sommer Konzepte entwickelt, die Besuche in Wohnbereichen selbst dann ermöglichen, wenn das Virus im Haus grassiert. Aktuell streiten die Juristen der Heimstiftung mit dem Stuttgarter Gesundheitsamt, das nach einem Corona-Ausbruch in einem Heim ein generelles Besuchsverbot erlassen hat.

Große Hoffnungen setzen die Heime auf Schnelltests, mit denen Bewohner, Mitarbeiter wie Besucher auf Corona getestet werden können. Außerdem hat der Pflegebeauftragte eine Handreichung angekündigt, mit einheitlichen Corona-Regeln für die Heime. Sie soll den Einrichtungen "Sicherheit geben", versprach Westerfellhaus. Angesichts aktueller Fallzahlen wundern sich Verantwortliche in den Heimen nur über das Erscheinungsdatum des Konzepts: Es soll frühestens im Dezember veröffentlicht werden.

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