Geschichte:Wie Agatha Christie verschwand

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Britische Tageszeitung wie die Daily News veröffentlichten Suchaufrufe für die Verschwundene. (Foto: Getty Images)

Die berühmte Krimiautorin war im Dezember 1926 plötzlich unauffindbar und wurde spektakulär gesucht. Nach elf Tagen tauchte die Britin wieder auf. Was war passiert?

Von Josef Schnelle

Die Lady ist gerade 36 Jahre alt und hat ihren sechsten Kriminalroman veröffentlicht, ist also schon berühmt, als sie am 3. Dezember 1926 nächtens verschwindet. Man findet ihren Morris Cowley nahe bei einem ominösen See, in dem sich ab und an verzweifelte hochgestellte junge Damen ertränken, dem Silent Pool von Guildford/Surrey. Die Scheinwerfer brennen noch.

Im Auto finden sich eine durchwühlte Tasche mit Kleidung und ein abgelaufener Führerschein. Von Agatha Christie selbst fehlt jede Spur, und aus dem See taucht keine Leiche auf. Eine beispiellose Suchaktion beginnt, an der sich tausend Polizisten und nach manchen Berichten bis zu 15 000 Freiwillige beteiligen. Bluthunde werden eingesetzt, erstmals werden Flugzeuge an der Suche beteiligt. Sogar auf die Titelseite der New York Times schafft es Agathas Verschwinden.

Belohnungen werden ausgelobt, der esoterisch angehauchte Sherlock-Holmes-Erfinder Arthur Conan Doyle lässt sich publicity-wirksam einen Handschuh der Lady zukommen, den er mithilfe eines Mediums okkult untersucht. Sie sei immerhin wohlauf, dabei "halb verwirrt aber doch zielgerichtet". In der kommenden Woche werde sie wieder auftauchen. Das ist das vieldeutige Ergebnis seiner Spurensuche.

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Eine Anzeige erscheint: "Haarfarbe rot (kurz), natürliche Zähne, graue Augen, Hautfarbe hell, gut gebaut. Sie trägt einen grauen Rock mit Seidenstrümpfen, grünen Pullover, dunkelgraue Weste, kleinen grünen Hut aus Velours. Möglicherweise hat sie eine Handtasche mit 5 - 10 Pfund Bargeld bei sich." Doch alles Wühlen in den Sümpfen und Wäldern von Surrey bleibt erfolglos.

Superintendent Kenward, mit dem Fall betraut, verdächtigt bald Christies Ehemann Archibald als möglichen Mörder, denn mit der Ehe scheint nicht alles in Ordnung zu sein, hört er doch von Archibalds ständiger Abwesenheit samt Übernachtungen im Golfklub. Auch Gerüchte über eine Geliebte namens Nancy Neele und eine beabsichtigte Scheidung machen die Runde. In einem Agatha-Christie-Krimi mit ihrem Superdetektiv Hercule Poirot wäre dessen mögliches Mordmotiv also klar. Fehlt nur die Leiche.

Doch Agatha taucht nach elf Tagen quicklebendig wieder auf, tanzend und singend im fast 400 km entfernten Kurort Harrogate, North Yorkshire, mit seinen schwefelhaltigen Quellen. Sie wird vom Banjospieler der Hotelband erkannt. Sie musste also nach dem Verlassen des Autos von London aus eine fünfstündige Zugfahrt unternommen haben, sich als Kurgast aus Südafrika im Hydro-Hotel eingemietet, Kurbäder und Behandlungen genossen haben, und obwohl ihr Verschwinden bis in den hohen Norden Großbritanniens Tagesgespräch und Zeitungsschlagzeile war, sich seelenruhig vergnügt haben.

Agatha Christie äußerte sich nie über die wahren Gründe für ihr Verschwinden. In der 1977 erschienenen Autobiografie schrieb sie nur: "Wenn man den Blick zurück wendet, hat man das Recht, Erinnerungen, die einem zuwider sind, zu ignorieren." Und fügte an: "Oder ist das feige?"

Der Tod der Mutter als Auslöser für eine Amnesie?

Jedenfalls öffnete die erfolgreichste Krimiautorin aller Zeiten, deren Gesamtauflage heute die Zwei-Milliarden-Grenze überschritten hat (wohl nur von der Bibel und Shakespeare übertroffen), allen Spekulationen über die Motive ihrer Abwesenheit Tür und Tor. Ehemann Archibald verfocht die These, es habe sich um eine Amnesie gehandelt, bei der sie weder wusste, wer sie war, noch wo sie sich befand.

Deshalb habe sie sich in der Zeitung auch nicht erkannt. Noch heute attestieren ihr Ärzte zeitweise "dissoziative Amnesie", ausgelöst etwa durch den Tod ihrer Mutter kurz zuvor.

Allerdings hatte sie noch vor der Zugfahrt einen Diamantenring zur Reparatur gebracht mit der Bitte, ihn danach an ihre korrekte Heimadresse zu senden, hatte sich also offenbar nicht nur in einem Trancezustand befunden. Auch dass ihr Mann sich scheiden lassen wollte, blieb nicht verborgen: "Ich habe das Recht darauf zu verschwinden. Er hat die Pflicht, mich zurückzuholen - in sein Herz."

So skizziert die Biografin Barbara Sichtermann in ihrer kürzlich erschienenen romanhaften Lebenserzählung, den Stil Agatha Christies nachahmend, den Plan, der hinter der mysteriösen Selbstentführung gesteckt haben könnte. Eine inszenierte Eifersuchtscharade also. Dafür spricht, dass sich Agatha Christie im Hydro-Hotel unter dem Namen ihrer Nebenbuhlerin Neele - allerdings mit dem Vornamen Teresa - eingemietet hatte.

Ihre Ehe konnte die "Königin der Irreführung", wie sie wegen ihrer kriminalistischen Rätselspiele gerne genannt wurde, jedoch nicht retten, bald wurde sie geschieden. Mancher betrachtete die Sache sowieso als Publicity-Aktion, denn sie konnte sich nicht sicher sein, dass ihr damals neuester Roman "Der Mord an Roger Ackroyd", in dem der Icherzähler sich als Mörder entpuppt, bei den Lesern ankäme. Doch war solche Publicity für Bücher damals noch undenkbar.

Vielleicht halten wir es lieber mit Hercule Poirot, der meint, dass einfache Falllösungen immer die besten sind. Unter all den so schön geordneten Krimis von Agatha Christie bleibt die Geschichte ihres Verschwindens aber die einzige ohne überzeugende Auflösung im dritten Akt.

Sieht man einmal von Michael Apteds Hollywoodvariante ab, der 1979 Vanessa Redgrave in der Titelrolle von "Das Geheimnis der Agatha Christie" zur perfiden Mörderin macht, die ihre Nebenbuhlerin in Harrogate auf einen elektrifizierten Therapiestuhl locken will. Da kann man schon mal durcheinanderkommen.

Dabei hat Dustin Hoffman als ihr neuer Verehrer ihr schon einen Ausweg gewiesen: "Bezaubernd, dass Sie selbst ihre Bücher sind."

© SZ vom 28.11.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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