Dow Jones:Der heilige Rekord und die extreme Gier

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Ein Mann sitzt am Dienstag auf der Bullen-Statue im New Yorker Finanzbezirk: Die Anlieger kannten kein Halten mehr. (Foto: SPENCER PLATT/AFP)

Wegen Corona stecken die USA in einer schweren Wirtschaftskrise. Doch das Börsenbarometer Dow Jones knackt die Marke von 30 000 Punkten. Wie die Anleger reagieren und womit Marktstrategen rechnen.

Von Victor Gojdka, Frankfurt

Der Auftritt von US-Präsident Donald Trump dauerte nur eine Minute und zwölf Sekunden, aber er hatte es in sich. Denn der US-Präsident zeigte sich vor der versammelten Washingtoner Hauptstadtpresse regelrecht verzaubert von einer großen Zahl. Es war die elegante 30 000, die es dem US-Präsidenten so sehr angetan hatte. "Das ist eine heilige Zahl", sagt Trump.

Was den US-Präsidenten in solche Verzückung versetzte, war das US-Börsenbarometer Dow Jones. Zum ersten Mal in seiner Geschichte hatte der Kursanzeiger nur wenige Minuten zuvor diese runde Latte übersprungen und mit mehr als 30 000 Punkten einen Allzeithoch markiert. Ein Börsenrekord, der dem Präsidenten gegen Ende seiner Amtszeit so gelegen kommt wie nie: Kaum ein Mann im Weißen Haus hat den Lauf des wohl meistbeachteten Börsenbarometers der Welt so sehr zu seinem persönlichen Erfolgsmesser stilisiert wie Trump.

Wall Street
:Dow Jones erstmals über 30 000 Punkten

Noch nie stand der weltweit meistbeachtete Börsenindex so hoch: Der Dow Jones knackt die Marke von 30 000 Zählern - und beendet damit ein großes Auf und Ab in diesem Jahr.

Dabei hat an diesem Dienstag wohlgemerkt nicht Trump den Index um 1,5 Prozent ins Plus gehievt und damit über die runde Latte geschoben. Der Kurssprung war eher darauf zurückzuführen, dass Trump am Montag nach vielen Tagen der Unklarheit auch offiziell die ersten Weichen für seine Amtsübergabe an den wohl zukünftigen Präsidenten Joe Biden ebnete - und bei Anlegern die Angst vor einem Nachwahlchaos endgültig verebbte.

Weil dann auch noch durchgesickert war, dass der künftige Präsident Joe Biden ausgerechnet die angesehene ehemalige Zentralbankchefin Janet Yellen für den Posten der Finanzministerin nominieren dürfte, kannten die Anleger kein Halten mehr. Erst kürzlich hatte Yellen nämlich angedeutet, dass sie eine Freundin von mehr Wirtschaftshilfen für die gebeutelte US-Konjunktur sei. "Ein faszinierendes Comeback für die sehr kompetente Fed-Chefin, die von Trump gefeuert wurde", sagt Marktstratege Neil Wilson vom Broker CMC Markets.

Bei den Anlegern an der Wall Street ist die Stimmung derzeit trotz der schweren wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie so aufgeputscht, dass Stimmungsbarometer am Parkett deutlich ausschlagen. Der bekannte Angst-oder-Gier-Index zeigt mit einem Wert von 88 aktuell die "extreme Gier" der Anleger an.

Auch ein kombinierter Stimmungsindikator von US-Privatinvestoren und Fondsmanagern weist einen Grad an Optimismus auf, den es so seit 2017 nicht mehr gegeben hat. In den vergangenen zwei Wochen ist zudem so viel Geld in Aktienfonds geflossen wie noch nie, seitdem der Datendienst EPFR diese Statistik führt. Die US-Börsenbarometer dürften daher auf den besten November seit wohlgemerkt 1987 zusteuern.

Der Börsenindex spiegelt damit angesichts der düsteren realwirtschaftlichen Lage in den USA vor allem die Hoffnung vieler Anleger in Sachen Corona-Impfstoff. Seitdem erste positive Nachrichten über ein Corona-Vakzin an der Börse die Runde machen, ließen viele Anleger jede Vorsicht fahren. "Jetzt dreht der Wind", sagt Patrick Linden vom Vermögensverwalter Clartan Associés. Der Aktienboom in den USA ist aber auch auf die lockere Geldpolitik zurückführen, die einerseits mit ihren niedrigen Zinsen Anleihen als Alternative zu Aktien unattraktiv macht - und deren billiges Geld sich andererseits seinen Weg an die Märkte bahnt.

Wie viel Luft an der Börse noch nach oben ist, wird an der New Yorker Wall Street heiß diskutiert. Manche Marktstrategen rechnen mit weiteren positiven Impfstoffnachrichten, die viele Anleger ins Risiko treiben dürften - und in die Titel der einstigen Corona-Verlierer wie Airlines, Einzelhändler oder Ölaktien. Außerdem könnten Fondsmanager in den letzten Wochen des Jahres noch überschüssiges Geld an die Börse schieben, um ihre Jahresperformance etwas hübscher erscheinen zu lassen. In vielen Jahren der mehr als hundertjährigen Geschichte des Dow Jones geriet das im Advent zum Treiber für die Kurse.

Pessimisten wiederum halten die Kursjagd an den Börsen bereits jetzt für überzogen. "Die schlechte Nachricht ist, dass der Impfstoff erst in drei bis vier Monaten massenhaft verteilt werden kann", sagt Börsenexperte Michael Wilson von der US-Bank Morgan Stanley. Die Märkte seien daher zumindest vorerst "reif für eine Korrektur".

Auch langfristig sind sich die Anlageexperten derzeit so uneins wie selten: Manche Investoren rechnen mit goldenen 20er-Jahren an der Börse - getrieben vom großen technologischen Fortschritt, den die Corona-Pandemie mit Home-Office-Apps, Onlinebestellen und virtuellem Arbeiten auslösen könnte. Andere rechnen mit einer Pleitewelle in den Volkswirtschaften und Aktienrenditen, die auf Jahre gedrückt bleiben könnten. So prognostizieren die Strategen der Fondsgesellschaft JP Morgan Asset Management, dass die Erträge des US-Aktienmarktes auf gerade noch 4,1 Prozent pro Jahr für die kommende Dekade sinken könnten. Das wäre auch für deutsche Anleger eine Hiobsbotschaft, weil viele globale Aktienfonds stark auf US-Titel setzen und viele Privatleute auch dem Weltindex MSCI World folgen, in dem die USA für zwei Drittel des gesamten Index stehen.

Die US-Privatanleger ließen sich vom Pessimismus mancher Marktauguren am Dienstag jedoch nicht irritieren, der Dow Jones konnte sein Rekordhoch bis zum Handelsschluss um 22 Uhr deutscher Zeit verteidigen und schloss bei 30 046 Punkten. Privatanleger in den USA konnten so zumindest in finanzieller Hinsicht schon einmal ein vorgezogenes Erntedankfest feiern.

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