Architektur:Landeplatz der Libelle

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Wiener Glanz: Das Museumsquartier mit dem Kulturpavillon - und der Libelle auf dem DacLh. (Foto: Robert Smely/DroneProject Robert Smely /O&O Baukunst)

Seit Langem arbeiten die Architekten Laurids und Manfred Ortner gegen viele Widerstände am Museumsquartier in Wien. Eine Begegnung auf dem spektakulärsten Dach der Stadt.

Von Alexandra Föderl-Schmid

Die Libelle ist in diesem Spätsommer gelandet, mitten in Wien in bester Lage auf dem Dach des Leopold-Museums. "Es ist ein Schmuckstück, ein Muntermacher, ein Leuchtfeuer", sagt Architekt Laurids Ortner und blickt zufrieden um sich: Der Kulturpavillon strahlt in Weiß, auf der Terrasse tummeln sich unter den drei riesigen Lichtkreisen der Künstlerin Brigitte Kowanz Dutzende Menschen.

Von diesem erhöhten Aussichtsplateau, 25 Meter über dem Straßenniveau auf 900 Quadratmeter Fläche, hat man einen grandiosen Ausblick über das Museumsquartier bis zum Herzen der Stadt: Gleich gegenüber sind die wuchtigen historischen Bauten, die das Kunsthistorische und das Naturhistorische Museen beherbergen, dahinter der Heldenplatz und die weitläufige Hofburg - Zeugnis davon, dass von hier aus einmal ein großes Reich regiert wurde.

Von den ersten Überlegungen zur Nutzung des Museumsdachs 2008 bis zur Realisierung sind zwölf Jahre vergangen. Damals waren die Bedingungen bei der Eröffnung nicht absehbar: Dass man sich in diesen Zeiten aus Gründen des Infektionsschutzes lieber im Freien treffen sollte. So ist mit der Libelle eine Corona-kompatible Architektur entstanden, die seit der Eröffnung am 4. September rege genutzt wurde - als eine Art Freiluftbühne und Kultursalon, wo sich am Abend durch die Lichtinstallationen eine ganz eigene Stimmung ausbreitet.

"Es hat ein gutes Flair", meint der Architekt. Mit einer Libelle hat der Bau optisch nicht viel gemein, aus der Luft betrachtet sieht der Pavillon eher wie ein Penis aus. Über diese anfänglich in Wiener Medien gezogenen Vergleiche kann der Architekt heute lachen, auch wenn er über die Frage nach dem Namen schon leicht genervt wirkt. "Es soll die luftige Leichtigkeit einer Libelle widerspiegeln. Leichtigkeit und Charme. Und aus Marketinggesichtspunkten hat das ja funktioniert."

Auf der Fassade des Pavillons sind 2,4 Millionen weiße Punkte angebracht - ein Werk der Künstlerin Eva Schlegel. Bei Lichteinfall beginnt die Libelle zu flirren. Das ist nicht nur künstlerische Absicht, sondern dient auch dem Schutz der Anrainer vor etwaiger Lichtverschmutzung, wenn der gläserne Pavillon bei Dunkelheit genutzt wird. Bürger waren eingebunden in die Planungen, genauso wie der Denkmalschutz: Deren Interventionen haben dazu geführt, dass der Bau nicht, wie ursprünglich geplant, weiter vorne Richtung Innenstadt platziert wurde, sondern am hinteren Rand. "Das hat dem Projekt gutgetan, dass man den Raum schafft", meint der Architekt.

Er sieht auch als Schlüssel für die Akzeptanz der Öffentlichkeit, dass die beiden Künstlerinnen Kowanz und Schlegel von Anfang an dabei waren. "Das war strategisch wichtig, so ist ein Gesamtkunstwerk entstanden, das auch als solches wahrgenommen wird." Der offene Zugang trägt dazu bei, dass die Wienerinnen und Wiener dieses neue Wahrzeichen nicht nur begrüßt, sondern regelrecht im Sturm erobert haben.

Dass ein Architekt ausdrücklich für eine Einmischung der Bürger plädiert, wenn neue Bauprojekte entstehen, verwundert. Noch mehr, wenn man die Vorgeschichte des Museumsquartiers kennt, die "eine persönliche Leidensgeschichte" ist, wie Laurids Ortner bekennt. Denn der Prozess hat nicht nur bei ihm tiefe Spuren hinterlassen. Vom ersten Wettbewerb für die die Planungen 1986 bis zur Eröffnung 2001 ist ein Vierteljahrhundert vergangen.

Der Leseturm sollte die Krönung Areals werden

Aus den ehemals kaiserlichen Hofstallungen, deren barocke Gebäude Platz für 600 Pferde boten, sollte ein Areal für die Kultur werden. Die ursprüngliche Planung von Ortner & Ortner sah unter anderem zwei moderne Türme - einen als Bibliothek, den anderen für Büros - vor, die mitten ins Quartier gesetzt werden sollten. Ein moderner Kontrapunkt hinter dem Trakt des barocken Gebäudes von Fischer von Erlach und zu den Museumsbauten Gottfried Sempers und dem unvollendet gebliebenen Kaiserforum.

Es kam zu heftigen öffentlichen Debatten, insbesondere über die Höhe der neuen Baukörper und über den sogenannten Leseturm, der als 67 Meter hohes Hochhaus zum Wahrzeichen des Museumskomplexes werden sollte. Eine Bürgerinitiative formierte sich gegen das Projekt. Mehr als 140 namhafte Kunsthistoriker und Architekten protestierten, darunter der Erbauer der Louvre-Pyramide, Ieoh Ming Pei. "Die Stadt Wien und der Bund haben sich wechselseitig mit Prügel überzogen, und das Museumsquartier war eine Keule dafür. Auf allen Ebenen gab es Widerstand. Nicht nur im politischen Bereich, auch medial", erinnert sich Ortner.

Die beiden Brüder nahmen an unzähligen Diskussionen teil und planten jahrelang immer wieder um, "zum Unverständnis vieler Architektenfreunde", sagt Ortner. "Schweren Herzens" opferte er damals den Leseturm. Aufzugeben sei aber nie eine Option gewesen. Geblieben sind als Solitäre inmitten des barocken Gebäudeensembles das sandfarbene Leopold-Museum, in dem sich die wohl weltweit größte Sammlung mit Werken von Egon Schiele und Gustav Klimt befindet. Und nebenan als grauer Monolith das Museum moderner Kunst, Mumok, und die Kunsthalle.

Wer heute über das Areal streift, das neben dem Architekturzentrum und dem Kindermuseum insgesamt 60 Einrichtungen Platz bietet und eines der größten Kulturzentren weltweit ist, kann überhaupt nicht mehr nachvollziehen, warum derart erbittert gegen das Konzept gekämpft wurde: Das Museumsquartier hat sich zu einem lebendigen öffentlichen Raum entwickelt, in dem Jugendliche auf den in den Höfen stehenden Sitzelementen herumfläzen. Die Restaurants und Cafes sind - außer in Corona-Zeiten - gut besucht. Das Museumsquartier hat sich als Art mediterrane Plaza entwickelt; dass Wien auch international als moderne, lebenswerte Stadt wahrgenommen wird und nicht nur als Metropole, die vom Glanz vergangener Jahrhunderte lebt, liegt ganz wesentlich an diesem Ort.

Ob für ihn die Libelle nun der krönende Abschluss des Projekts Museumsquartier ist? "Nein, nein, nein!" Der sonst so zurückhaltende Laurids Ortner wird vehement. "Es fehlt der Leseturm! An dem halte ich fest. Alleine schon wegen seiner Zeichenhaftigkeit." Schließlich sollte der Leseturm das Wahrzeichen des Museumsquartiers und damit der ganzen Stadt werden.

Die Reaktion: freundliches Nicken

Bei der Eröffnung der Libelle hatte er das Projekt erneut gefordert, die Antwort war "freundliches Nicken bei den Honoratioren". Ortner hat die Hoffnung nicht aufgegeben, dass nun - 34 Jahre nach dem Start des ersten Wettbewerbs für das Kulturareal - die Zeit endlich reif ist für dieses Projekt, ein Hochhaus. "Und es würde sogar unter Corona-Bedingungen ganz wunderbar funktionieren."

Der ursprüngliche Plan sah die Verbindung von zwei Etagen vor und die Schaffung von kleinen, privaten Nischen und Salons - ideal zum Lesen. "Es muss nicht nur um Bücher gehen. Man könnte auf den verschiedenen Etagen auch andere Themen zusammenbringen." Das Haus der Geschichte? "Ich hab das nicht gesagt", lacht der Architekt. "Das wär was! Eine tolle Chance, aktuelle Geschichte in diese Kulturlandschaft zu stellen. Auch das war eine verkämpfte Diskussion." Der Kampf um ein Haus der Geschichte wird weiter geführt, obwohl das erste zeitgeschichtliche Museum nach jahrelangen Debatten um Standort und Konzeption vor zwei Jahren in den Räumen der Hofburg neben der Nationalbibliothek eröffnet wurde.

Anders als noch beim Start des Museumsquartiers gebe es inzwischen Mediatoren, die durch solche Prozesse begleiten. Denn Widerstand gegen Bauprojekte gebe es fast immer, sagt Ortner. "Das führt dazu, dass man als Architekt noch einmal rangehen muss. Dieses Abschleifen eines Projekts durch demokratische Prozesse, das hat bei allem Schmerz, den man persönlich erleidet, auch positive Seiten. Das Projekt wird geformt wie ein Stein, der im Fluss liegt: Es wird glatter, runder." Dadurch nehme auch die Akzeptanz zu.

Diese Erfahrung hat der Architekt auch in Deutschland gemacht, wo Ortner & Ortner Baukunst neben Wien mit zwei Büros in Berlin und Köln sowie insgesamt vierzig Mitarbeitern vertreten ist. Zu den bekanntesten Bauten gehören das ARD-Hauptstadtstudio in Berlin, die sächsische Landesbibliothek in Dresden und das preisgekrönte Landesarchiv NRW in Duisburg, Deutschlands größtes Archivgebäude - ein 70 Meter hoher Koloss mit einer markanten Ziegelfassade am Innenhafen der alten Industriestadt, wo einst Getreide gespeichert wurde. Die Architekten und ihr Team haben auch zahlreiche Büro- und Wohngebäude gebaut wie das Wohnquartier Living Isar in München. Auch Shoppingmalls wie das umstrittene Alexa am Berliner Alexanderplatz sind dabei. Im Berliner Stadtteil Siemensstadt entsteht unter ihrer Ägide ein völlig neuer Kiez.

Gebäude für Kultureinrichtungen zu entwerfen, sei grundsätzlich spannender. "Kulturbauten sind Meilensteine für die Gesellschaft. Da kann man architektonisch in den Pott greifen und sich mehr zutrauen als bei normalen Bauten. Aber sie müssen auch über den Tag hinausreichen."

Deutsche Architekten einfallslos? Von wegen

Generell bricht der Architekt aus Österreich, der im kommenden Mai seinen 80. Geburtstag feiert, eine Lanze für den jüngeren Baustil in Deutschland. "Ich bin ein Verfechter der deutschen Architektur, die vom Feuilleton häufig als einfallslos und eintönig geschmäht wird. Die Architektur in Deutschland hat eine Form von Zurückhaltung, die eine Ernsthaftigkeit und Seriosität ausstrahlt. In Frankreich oder Holland hat man mehr den Eindruck, die Architektur müsse sich ständig neu erfinden." In den Architekturschulen würden "Genies erzogen, die jeden Tag neue Überlegungen anstellen".

Ortner ringt sich nach einer kurzen Pause auch zu einem Geständnis durch: "Ich bin wahrscheinlich einer der wenigen, der Berlin für gelungen betrachtet. Damals, als nach der Wiedervereinigung der Potsdamer Platz entstand, hat ganz Europa auf Berlin gestarrt und gehofft oder gefürchtet, da wird jetzt die moderne Stadt explodieren." Und dann habe es sich als richtig herausgestellt, dass man sich an die Berliner Traufhöhe gehalten und keine Wolkenkratzer hingestellt habe. "Das Steinerne, diese Stringenz, diese Reduktion, das hat viele entsetzt. Aber man kann nicht wie in Tokio ein architektonisches Gustostück neben das andere setzen. Man muss schauen, wie man die Substanz zurückgewinnt."

Für ihn hat Sachlichkeit und Kontinuität bei Bauten etwas Positives. "Ich finde es in Ordnung, wenn sich die Häuser zu einem großen Körper zusammenfinden. In Paris oder New York gibt es eine Kompaktheit, die eine gewisse Gleichartigkeit ausstrahlt und akzeptiert ist. Das Leben funkelt in den Straßen." Außerdem könne man dann auch mit Kulturbauten "Pirouetten drehen und einzelne Bauten tanzen lassen".

Diese Einschätzung überrascht bei jemandem, der einmal als "richtig wilder Hund" galt und mit seinem Bruder Manfred die Kunst- und Architekturszene in den Siebzigerjahren aufmischte. Gemeinsam mit Günter Zamp Kelp und Klaus Pinter arbeiteten sie unter der Dachmarke Haus-Rucker-Co und begehrten mit verrückten künstlerischen Projekten und Installationen gegen das Establishment auf. Heute sind die Entwürfe aus dieser Zeit auch im Museum of Modern Art in New York zu finden. "Oase Nr. 7" war ein luftgefüllter Plastikballon mit Palmen und Hängematte, der auf der Documenta in Kassel zu bekraxeln war. Als eines der berühmtesten Projekte ging das "Riesenbillard" - eine große begehbare Kunststoffinsel, auf der drei gigantische Kugeln bewegt werden können - in die Architekturgeschichte ein.

"Ich glaube, heute sind wir selbst Teil des Establishments", sagt Ortner. "Mit Haus-Rucker-Co wollten wir das Alte wegrücken, um Platz für Neues zu schaffen. Das war ein künstlerischer Ansatz, der gut in die damalige Zeit passte. Heute hingegen arbeiten wir nicht mehr gegen die Stadt, sondern mit ihr." Und so passt es, dass die beiden Brüder im Oktober mit dem Großen Staatspreis für Kultur in Österreich ausgezeichnet wurden - natürlich im Museumsquartier.

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