Internationales Choreografenatelier:Eingegrenzt

Zum 6. Choreografenatelier der Tanztendenz.

Von Eva-Elisabeth Fischer

An diesen drei Abenden geht es in vier Referaten und einem höchst erhellenden Gesprächsvideo um Grenzen. Virtueller Austragungsort bei diesem 6. Internationalen Choreografenatelier des Tanztendenz München e. V., das seit 2005 auch in Symposien den wissenschaftlichen Status quo in seiner politischen und gesellschaftlichen Relevanz reflektiert, ist wegen Corona der Livestream. Das interne Choreografenstudio entfällt dabei heuer ebenso wie das Filmprogramm. All das nimmt Veranstalter Micha Purucker, Mitbegründer der Tanztendenz und Hirn der freien Münchner Tanzszene, souverän hin und übernimmt zudem die Rolle des allseits beschlagenen Hinterfragers.

Gleich am ersten Abend kriegen sich zwei Referenten in die Wolle. Der eine, Thomas Fuchs, spricht, sich auf Karl Jaspers beziehend, vom Individuum und seinem verunsicherten "Gehäuse" in Zeiten der Pandemie. Dem widerspricht vehement Michaela Ott, die den Begriff Individuum, wörtlich das Nicht-Teilbare, als "nicht günstig" ablehnt zugunsten des Begriffs Person, der die Teilhabe vieler an vielem umfasse. Solch damit einhergehende Entgrenzung veranlasst am Ende des Symposions Thomas Dörfler, vehement die Notwendigkeit von Grenzen speziell als Individuum zu verteidigen. Nicht nur in diesem Streitfall treffen Individuen (oder auch Personen) mit verschiedenen referenziellen Hintergründen aufeinander: hier Fuchs, der Psychiater und Philosoph, der der Existenzphilosophie von Karl Jaspers anhängt. Er liefert den vergleichsweise verständlichen Einstieg ins Nachdenken über Grenzen aus der Sicht ganz unterschiedlicher wissenschaftlicher Perspektiven, denen freilich eines gemein ist: die politischen Implikationen eines sich verändernden Bildes vom Menschen bezüglich der ethnischen, nationalen, ja auch biologisch definierten Zugehörigkeit, der psychologischen und auch der politischen Identität.

Michaela Ott hingegen, in Hamburg Ästhetische Theorien lehrend, reichert ihre komplexen Ausführungen auf der poststrukturalistischen Basis der 1980er ff mit den jüngsten biophilosophischen Erkenntnissen an. Es ist am Ende Thomas Dörfler, der Sozial- und Bevölkerungsgeograf, der luzide erläutert, warum speziell in Zeiten von Migration und Flüchtlingsströmen klare kulturelle Grenzen nötig sind - freilich in harscher Abgrenzung zu jedweden Populisten. Bleibt die Frage, was all dies mit dem choreografierten Körper zu tun hat. Da muss Purucker nachliefern. Hoffentlich, wie geplant, schon im kommenden Frühjahr.

Vorträge: youtube.com/watch?v=SCas_9UWh9I

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