Turnen:Wenn Demütigung zum Training gehört

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Eleganz in der Luft: Pauline Schäfer am Schwebebalken, dem Gerät, auf dem sie 2017 Weltmeisterin wurde. (Foto: Minas Panagiotakis/AFP)

Psychoterror, Erniedrigung, Medikamentenmissbrauch - Turn-Weltmeisterin Pauline Schäfer erklärt, von ihrer Trainerin jahrelang misshandelt worden zu sein. Der Fall zeigt: Der Sport braucht feinere Kontrollen.

Von Volker Kreisl, München

Eine Turnhalle für Leistungssportler ist vollgepackt mit Geräten. So viele sind es, dass die Akustik des riesigen Raums gedämpft ist wie in einem Studio. Holme und Stützen, senkrechte und waagerechte Stangen, Matten und Balken, Schnitzelgruben mit viel Schaumstoff sind fest montiert, und irgendwo steht noch ein Turnkasten mit etwas Platz für die Ablage der Trainernotizen. Spitzenturnen ist der Ernst des Lebens, das sagen diese Hallen.

Auch in Chemnitz. Mit voller Konzentration und nach ausgeklügelten Plänen üben die Schüler des Olympiastützpunktes, darunter auch jene, deren Poster schon an der Wand hängen, weil sie längst Werbeträgerinnen sind. Voran die Topturnerinnen: Pauline Schäfer, Weltmeisterin von 2017 am Schwebebalken, und Sophie Scheder, Bronzegewinnerin am Stufenbarren bei den Olympischen Spielen in Rio 2016. Auch sie sind einst zur renommierten Trainerin Gabriele Frehse gekommen, in diese Leistungshalle, in dieses scheinbar ideale Milieu, über dem nun ein Schatten liegt.

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Die Trainerin weist die Vorwürfe zurück: Sie habe sich immer im Rahmen des Legalen bewegt

Schäfer hatte sich schon vor zwei Jahren von Frehse distanziert, sie blieb in Chemnitz, trainierte aber unter anderen Coaches. Nun hat sie mit fünf weiteren Chemnitz-Schülerinnen im Spiegel berichtet, dass sie misshandelt worden sei. Frehse habe sie erniedrigt, in einer Weise, die sie als "Psychoterror" empfand, durch schmerzhaftes Training und regelmäßige herablassende Bemerkungen über Schäfers angebliches Übergewicht. Um das Training durchzuziehen, habe Frehse auch andere Grenzen überschritten: Medikamente sollen ohne ärztliche Anordnung verabreicht worden sein. Frehse weist die Vorwürfe als "haltlos"zurück, sie habe sich immer im Rahmen des Legalen bewegt.

Den Deutschen Turnerbund beschäftigt nun beides: die Sorgfaltspflicht gegenüber Trainerin wie Schülerin. Über Frehses Anstellung kann nur der OSP Chemnitz oder der Landessportbund entscheiden. Über die Umstände, die Schäfer berichtet, ist der DTB alarmiert. Eine Kanzlei prüfe, der Auftrag laute, "die Sachverhalte neutral aufzuarbeiten", sagt DTB-Präsident Alfons Hölzl: "Wir schulden dies nicht nur den Athletinnen, die den Mut hatten, über ihre Erfahrungen zu berichten, sondern auch den Trainern und Trainerinnen, die sich kritischen Fragen ausgesetzt sehen."

Der Fall Schäfer setzt möglicherweise neue Maßstäbe in einem Sport, der einst für Gesundheit stand, auf Spitzenebene jedoch anfällig für Übergriffe ist. Schäfers Bericht ging international eine Welle voraus, die nun eben auch in Deutschland hochschlägt. Angefangen mit dem schweren Missbrauchsskandal in den USA über Erniedrigungen in Großbritannien, den Niederlanden oder Australien wurden Trainer und andere Bezugspersonen beschuldigt und auch schon verurteilt. Immer ging es um einen Verlust der Verhältnismäßigkeit. Trainer hatten viele Jahre in Heranwachsende investiert, wähnten sich vor der großen Vollendung des Werkes, verlangten vollen Einsatz, sahen nur noch das Ziel, erniedrigten, beleidigten, schlugen.

Die Besonderheit von Chemnitz liegt nun darin, dass Schäfers Teamgefährtin Scheder, die ebenfalls in der Chemnitzer Halle seit Jahren quasi zu Hause ist, den Vorwürfen teils widerspricht. Sie habe Frehses Worte anders empfunden, als normale menschliche Differenzen, wie sie gegenüber dem sid erklärte. Gewiss, "jede Athletin nimmt das Gesagte anders wahr", aber dass "der Ton bei Trainern auch mal schärfer ist, ist einfach nur menschlich."

Ist alles somit gar nicht so schlimm? Ist Schäfer vielleicht nur ein bisschen empfindlich und soll sich nicht so haben?

Der niederländische Coach Vincent Wevers, dem körperliche und seelische Übergriffe vorgeworfen wurden, sagte, er habe sich der herrschenden Kultur angeschlossen, "die war sehr hart und spartanisch, mit wenig Mitsprache." Doch diese Art, mit Schülern umzugehen, kann kein Maßstab mehr sein im Leistungssport, der ja Vorbild für die ganze Gesellschaft sein will. Es geht weniger um Härte als um individuelle Reife, und deshalb wäre es konsequent, wenn die Anklage der sechs Frehse-Schülerinnen nicht als überempfindlich abgetan, sondern ernst genommen wird.

Das ideale Milieu wird es nie geben, aber neue Methoden sind durchaus möglich

Um dem Einzelnen gerecht zu werden, muss der Sport wohl nachbessern. Schäfer zählt eher zu den stillen Sportlerinnen, jenen, bei denen man sich gut vorstellen kann, dass sie regelmäßige Demütigungen der zunächst unscheinbaren Art lange hinnehmen und über das eigene Unwohlsein lieber hinwegturnen. Sich dessen spät klar zu werden, wäre ihr gutes Recht, es öffentlich zu machen auch. Schäfer sagt, sie wolle nicht länger schweigen.

Nur, um versteckten Übergriffen auf die Spur zu kommen, brauchte der DTB wohl noch mehr Anlaufstellen, das Frühwarnsystem müsste nachgeschärft werden. Derzeit gibt es eine Ombudsperson und auch Sportpsychologen, an die man sich wenden kann, zudem sagt Hölzl, man habe grundsätzlich Vertrauen zu allen Coaches. Allerdings zeige Chemnitz, "dass wir noch sensibler sein müssen". Eigentlich, sagt der Präsident, gehe man davon aus, dass jüngere Turnerinnen "sich zunächst an ihre Eltern, Freunde oder aber den Trainer oder die Trainerin ihres Vertrauens wenden, wenn sie etwas bedrückt." Weiter könnten sich Betroffene anonym über die Ombudsstelle an Vorgesetzte wenden, zudem helfe ein neues Präventionsprogramm gegen sexualisierte Gewalt.

Die Frage ist aber, ob das reicht oder ob es bei jungen Hochleistungssportlern, manche davon mit Hochleistungseltern, noch mehr unabhängige Ansprechpersonen braucht. Solche, die sich in einer Spitzensporthalle auskennen und Sorgen, die in diesem Fall sechs Sportlerinnen über lange Zeit geschluckt haben, rechtzeitig erahnen könnten. Das ideale Milieu wird es nie geben, möglich sind aber neue Methoden, mit denen man dem Individuum noch mehr gerecht werden kann.

Pauline Schäfer ist wohl auch deshalb eine gute Schwebebalkenturnerin, weil sie sich über zu harte Sprüche aufregt, die andere hinnehmen. Und weil sie verletzende Details heraushört, die im Trainingsalltag als selbstverständlich erscheinen. Im Wettkampf zeigt sie jedenfalls jene Eleganz, die durch Gefühl statt durch Kraftbolzen erreicht wird. 2017, bei WM-Gold in Montreal, hat das den Unterschied ausgemacht.

© SZ vom 01.12.2020 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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