Rechtsstaatlichkeit:"Diese Regierung sieht die EU nur als Kuh an, die man gerne melkt"

Borys Budka, Jacek Jaskowiak and Tadeusz Truskolaski hold a press conference in Krakow Jacek Jaskowiak Borys Budka, the

"Wir sind dankbar, in der EU zu sein": Posens OB Jacek Jaśkowiak.

(Foto: Beata Zawrzel/imago images/Eastnews)

Posens Oberbürgermeister ist die Haltung der polnischen Regierung im Streit mit Brüssel peinlich. Ein Stopp von EU-Hilfen würde großen Schaden in seiner Stadt anrichten, sagt Jacek Jaśkowiak.

Interview von Florian Hassel, Warschau

Jacek Jaśkowiak ist seit 2014 Oberbürgermeister von Poznań, auf Deutsch Posen, mit 536 000 Einwohnern die fünftgrößte Stadt Polens. Jaśkowiak gehört zur oppositionellen Bürgerkoalition und ist einer der bekanntesten Lokalpolitiker Polens.

SZ: Herr Oberbürgermeister, Polen hat in 16 Jahren EU-Mitgliedschaft 123 Milliarden Euro netto von der EU bekommen. Wie hat sich dies in Posen ausgewirkt?

Jacek Jaśkowiak: Allein in Posen und allein seit 2014 haben wir umgerechnet fast 200 Millionen Euro bekommen. Und das ist nur das Geld, das wir als Stadt genutzt haben. Dazu kommen die Millionen, die polnische Unternehmen bekommen haben. Für Posen und unsere Region Wielkopolska (Woiwodschaft Großpolen; Anm. d. Red.) haben die EU-Gelder eine enorm große Bedeutung - sie haben es uns ermöglicht, uns zu modernisieren und uns deutschen oder französischen Städten anzugleichen. Die EU-Mittel sind zweckgebunden - für Fahrradwege, öffentlichen Nahverkehr, bessere Ausstattung in Schulen oder Krankenhäusern. Es sind Aberhunderte von Maßnahmen.

Was waren die wichtigsten Projekte?

Etwa eine moderne Müllverbrennungsanlage für 200 Millionen Euro, die die Umweltbelastung deutlich verringert hat. Oder unsere neuen Busse und Straßenbahnen. Die EU-Gelder haben unsere Lebensqualität deutlich gesteigert.

Auf was müssten Sie verzichten, wenn es wegen der Position Warschaus und Budapests kein Geld der EU mehr geben sollte?

Zum Beispiel auf eine neue Straßenbahnlinie in den Norden von Posen, die unsere permanenten Staus und die Abgase verringern würde. Die kostet allein in der ersten Bauphase rund 100 Millionen Euro, knapp ein Drittel wären EU-Fördermittel. Danach kämen zwei weitere Etappen, die wir auch vergessen könnten. Ebenso ein in Zeiten des Klimawandels wichtiges Projekt zur Regenwassergewinnung und Bewässerung von Parks und Grünanlagen, das wir uns bei den Kollegen in Hamburg angesehen haben. Es würde uns auf zehn Jahre gerechnet 500 Millionen Euro kosten - ohne EU-Zuschüsse wird das nichts. Und auch unsere Unternehmen würden hart getroffen.

Wie das?

Rund 70 Prozent der Bauaufträge unserer Firmen kommen von Städten, Gemeinden oder der Region, oft mit EU-Zuschüssen. Wenn die ausbleiben, werden allein hier viele Mitarbeiter entlassen. Und wir kämpfen ja ohnehin mit enormen Steuerausfällen durch die Pandemie.

Wie enorm?

Wir haben 2020 allein als Stadt rund 45 Millionen Euro verloren, von der Einkommensteuer bis zu Einbrüchen im öffentlichen Nahverkehr, das ist eine gewaltige Summe bei einem Stadthaushalt von umgerechnet 1,12 Milliarden Euro. Auch unser Flughafen oder die Posener Messe, an der wir beteiligt sind, haben hohe Verluste und im Rahmen des geplanten Covid-Sonderprogramms EU-Hilfen beantragt - die nun ausbleiben könnten.

Jaroslaw Kaczynski

Jarosław Kaczyński gilt als einflussreichster Politiker in Polen.

(Foto: Czarek Sokolowski/AP)

Wie bewerten Sie die harte Haltung der Regierung in Warschau?

Das Grundübel ist, dass diese Regierung die EU nur als Kuh ansieht, die man gerne melkt. Dass die EU tatsächlich ein Verband ist, in dem wir auch Pflichten übernommen haben, dieser Gedanke liegt ihr fern. Die Veto-Drohung hat vor allem mit Machtkämpfen innerhalb der Regierung zu tun. PiS-Chef Jarosław Kaczyński kann ohne seinen Koalitionspartner Zbigniew Ziobro, der als Justizminister und Generalstaatsanwalt den Rechtsstaat demontiert hat und hinter dem 18 Abgeordnete stehen, nicht weiterregieren. Und für Kaczyński zählt vor allem die Macht. Ob Polen die Milliarden von der EU bekommt oder nicht, ist für ihn letztlich zweitrangig. Mir ist das peinlich. Wir sind dankbar, in der EU zu sein.

Bestehen andere EU-Länder zu Recht auf dem Rechtsstaatsmechanismus?

Ja. Für uns polnische Bürger besteht ein großes Interesse daran, dass auch bei uns der Rechtsstaat eingehalten wird.

Polens Regierungschef Mateusz Morawiecki galt ja lange als kompromissbereiter.

Ministerpräsident Morawiecki ist von Kaczyński abhängig. Kaczyński teilweise von Ziobro. Ministerpräsident Morawiecki muss also manchmal Entscheidungen treffen, die für ihn nicht angenehm sind.

Wie sieht denn Ihre Zusammenarbeit mit ihm aus?

Wir haben als Zusammenschluss der zwölf größten Städte seit März rund 60 Briefe an Morawiecki, an den Bildungs- und den Gesundheitsminister geschrieben - und fast nie eine Antwort bekommen. Morawiecki hat sich dreimal mit uns getroffen, aber uns nicht wirklich ernst genommen, sondern die Treffen in erster Linie als Propaganda für Fernsehbilder begriffen.

Sie haben EU-Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen am Montag mit 255 anderen Bürgermeistern aus Polen und Ungarn einen Brief geschrieben ...

Wir wollten klarmachen, dass in Polen und Ungarn längst nicht alle so denken wie unsere Regierungen. Wir haben die Veto-Drohung und die Zurückweisung des Rechtsstaatsmechanismus durch unsere Regierungen verurteilt und Präsidentin von der Leyen aufgefordert, endlich die seit einem Jahrzehnt unbehandelte Krankheit der EU zu bekämpfen: demokratische Rückschritte und autoritäre Regierungen, die uns alle als Geiseln nehmen. Außerdem bieten wir an, einen Fonds für polnische und ungarische Städte zu schaffen, die alle EU-Kriterien einschließlich der Rechtsstaatlichkeit gern erfüllen würden. Und es werden bestimmt noch viel mehr Städte: Die 256 Unterzeichner kamen in nur wenigen Tagen zustande.

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