Ungarn:Rumdumschlag aus Luxemburg

Der Europäische Gerichtshof verurteilt den Umgang der Orbán-Regierung mit Asylbewerbern als rechtswidrig.

Von Cathrin Kahlweit

Das Verhältnis der EU zum Mitgliedsland Ungarn ist schon jetzt durch den Streit über die Auslegung des Rechtsstaatsmechanismus, die Rolle der Regierungspartei Fidesz im Club der Europäischen Volkspartei sowie die jüngsten Verfassungsänderungen zu Homosexuellen und Oppositionsrechten schwer belastet. Nun kommt ein neues, aber eigentlich altes Thema dazu: der Umgang mit Asylbewerbern.

Am Donnerstag veröffentlichte der Europäische Gerichtshof (EuGH) das Ergebnis eines Vertragsverletzungsverfahrens, das die Kommission vor Jahren in Gang gesetzt hatte: Sie hatte gegen Ungarn wegen seiner Asylpolitik geklagt. Das Themenfeld ist ohnehin vergiftet: Ungarn lehnt die Migrations- und Asylpolitik der EU grundsätzlich ab und sieht im angestrebten Verteilungsmechanismus den Versuch, dem Land unter Missachtung seiner Souveränität die Aufnahme von Migranten aufzuzwingen.

Das Urteil dürfte zu massiven Reaktionen führen

Bei der Klage ging es um sogenannte Transitzonen an den Außengrenzen, in denen Asylbewerber ihre Anträge bisher stellen mussten, um haftähnliche Zustände während der Verfahren und um Abschiebungen, bei denen abgelehnten Asylbewerbern das Recht auf ein rechtsstaatliches Verfahren genommen wurde. Das Urteil ist ein Rundumschlag gegen die ungarische Asylpolitik - und dürfte, wiewohl so in Budapest erwartet, zu massiven Reaktionen der Regierung von Premier Viktor Orbán führen.

Ungarn hatte die Transitzonen zwar bereits aufgrund eines vorangegangen Urteils des EuGH im Mai dieses Jahres geschlossen, das Gericht stellt aber fest, dass die Missstände viel früher hätten beseitigt werden müssen. Schließlich habe die Kommission die Rechtmäßigkeit der von Ungarn 2015 erlassenen und 2017 verschärften Asylgesetzgebung bereits vor fünf Jahren, während der sogenannten Flüchtlingskrise, bezweifelt. Ungarn hatte sich damals auf eine "durch die massive Zuwanderung herbeigeführte Krisensituation" berufen.

Tatsächlich waren 2014 und 2015 über die Balkanroute Zehntausende Flüchtlinge gen Norden gezogen; die allermeisten querten Ungarn und gingen weiter nach Westen. Budapest ließ jedoch im Sommer 2015 einen stark befestigten Grenzzaun im Niemandsland an der Grenze zu Serbien errichten und stellte an zwei Übergängen in sogenannten Transitzonen Container auf, in denen eine auf wenige am Tag begrenzte Zahl von Menschen ihre Asylanträge stellen durfte. Den Ausgang des Verfahrens mussten sie in grenznahen, geschlossenen Lagern abwarten; wer abgelehnt wurde, wurde nach Serbien abgeschoben.

Asylbewerber haben kaum Zugang zu Rechtsberatung

Menschenrechtsorganisationen beklagen seit Jahren die Zustände an der Grenze, wo auch Minderjährige in den Lagern festgehalten werden, Ernährung und medizinische Versorgung schlecht sind und Asylbewerber kaum Zugang zu Rechtsberatung haben. Ungarn hat eine der niedrigsten Anerkennungsquoten in Europa; 2019 sollen es 60 Menschen gewesen sein.

Der EuGH urteilte nun, Ungarn verstoße gegen seine Pflicht, Asylbewerbern einen geordneten Zugang zu ihren Verfahren zu ermöglichen, weil diese in den Transitlagern nur nach langen Wartezeiten und unter schwierigsten humanitären Bedingungen einen Antrag stellen könnten. Die Unterbringung in den Containerlagern stelle, wie schon in dem Voraburteil im Mai kritisiert, eine Art Haft dar. Ungarn habe aber nicht darlegen können, warum das Land Personen, die internationalen Schutz beantragen wollten, inhaftieren dürfe.

Abgelehnte Asylbwerber hätten außerdem das Recht, bis zur rechtlichen Prüfung der Ablehnung im Land zu bleiben; eine oft mit Gewalt herbeigeführte Überführung nach Serbien sei unrechtmäßig. In jedem Fall habe Ungarn nicht ausreichend begründet, warum es diese rigiden Ausnahmen von europäischem Recht anwende. Das Gericht spricht von "unionsrechtswidrigen Modalitäten".

In Einzelfällen können die Botschaften in Belgrad oder Kiew eine Einreisegenehmigung erteilen

Neue, mittlerweile von Budapest erlassene Regeln sehen nun vor, dass Asylsuchende in ungarischen Botschaften, etwa in Belgrad oder Kiew, ihre Absicht bekunden können, einen Antrag zu stellen. Dann bekommen sie in Einzelfällen die Erlaubnis, nach Ungarn einzureisen. Gegen diese Regeln hat die EU-Kommission im Oktober ein neues Vertragsverletzungsverfahren eingeleitet.

Als Reaktion auf den Kompromiss zum - unlängst im Paket mit dem nächsten EU-Budget und Corona-Hilfen beschlossenen - Rechtsstaatsmechanismus hatte Orban die EU in einer selbst für seine Verhältnisse ungewohnt scharfen Einlassung in sarkastischem Ton dafür gelobt, dass sie den Plan des "Spekulanten" George Soros abgewehrt habe, der "Tausende von NGOs, Forschungsinstituten, Analysewerkstätten und Aktivisten" beeinflusse, Parlamentsabgeordnete kaufe, EU-Kommissaren Schlüsselpositionen verschaffe - nur um dann Rechtsvorschriften herbeizuführen, die eine offene Gesellschaft und Migration erzwingen würden.

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