Hyperpop-Phänomen "100 gecs":Bis die Muskeln flimmern

Lesezeit: 3 min

Wer oder was, zum Teufel, sind "100 gecs"? Nun, sagen wir so: Wenn man sich einmal an sie gewöhnt hat, erscheint jede andere Musik wie aus einer fernen Vergangenheit.

Von Juliane Liebert

100 gecs haben eine Weihnachtssingle: "Sympathy 4 The Grinch". In der beschimpfen sie Santa, weil er ihnen nicht gibt, was sie wollen, obwohl sie das ganze Jahr brav waren. Wie passend.

Die Gelehrten streiten schließlich, ob das, was 100 gecs machen, eigentlich im engeren Sinne Musik ist. Oder vielleicht doch etwas anderes, etwas noch größeres, etwas, das sich gänzlich auf einer anderen Ebene abspielt. 100 gecs bestehen aus Dylan Brady und Laura Les. Beide wurden in der Nähe von St. Louis geboren und trafen sich erstmals 2012. Drei Jahre später begannen sie, gemeinsam Musik zu machen - vor allem für virtuelle Events wie das Fire Festival. 2019 erschien dann auch ihr erstes Album, "1000 gecs". Dem folgte ein Hype, der sie ins Sichtfeld der Weltöffentlichkeit brachte. Die Kiefer, die auf dem Cover des Albums abgebildet ist, wurde zu einem Pilgerort für Fans, die ihn besuchten und kleine Objekte zurückließen. Eigentlich sollte 2020 die erste Welttournee starten, aber, nun. Bleibt das musikalische Schaffen, eine sondersame Pyramide da draußen in der Musikwelt.

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Erinnert sich noch jemand an diese Gürtel, die in Teleshopping-Sendungen angepriesen wurden? Die elektrische Signale in die Bauchmuskeln schießen, so dass die kontrahieren und man dadurch (angeblich) einen durchtrainierten Bauch bekommt, ohne sich je zu bewegen? Ungefähr in dieser Kategorie spielt sich das ab, was 100 gecs machen und wer eins von beidem - 100 gecs oder so einen Gürtel - schon einmal ausprobiert hat, weiß: Es fühlt sich viel besser an, als es klingt.

Flucht mit einem Pferd - in einem Porsche

Zum einen bedienen Les und Brady innerhalb von "1000 gecs" alle Genres. Also wirklich: alle. Chart-Pop, Dubstep, Metal, Jazz, Funcore. Manche nennen das "Hyperpop", ein Begriff, den 100 gecs nicht mögen. Aber man versteht schnell, woher die Bezeichnung kommt: Die Songs des Duos sind schnell und die Stimmen hochgepitcht, das Genre wechselt manchmal binnen Sekunden. Das macht das Hören des Albums zu einer Blitzreise: Erst wähnt man sich in einem Videospiel, dann in der Oper, dann in einem Jazzclub, in dem alle Musiker von der japanischen Mafia verstümmelt wurden und trotzdem noch ein paar Sekunden weiterspielen. Aber bevor man sich darüber wundern kann, ist man schon, zack, auf einem Karneval und reitet ein kaputtes elektronisches Pony.

Wenn man genau sein will, geht es im Song "Stupid Horse" natürlich nicht um ein Pony, sondern um ein Rennpferd. Das Rennpferd ist deswegen "stupid", weil das lyrische Ich im Song sein letztes Geld auf es gewettet und alles verloren hat. Deswegen rennt das lyrische Ich auf die Rennstrecke, schlägt den Jockey ins Gesicht, stiehlt sein Telefon und haut gemeinsam mit dem Pferd ab. In einem Porsche.

Dass dieser Wahnsinn funktioniert liegt unter anderem daran, dass unter allem Wahnsinn gute Songs stecken. Man könnte sich gut ein akustisches Coveralbum vorstellen. Von Cat Power. Bitte, ausprobieren: Man höre "Ringtone" oder "Stupid Horse" an. Und stelle sich dann eine Klavierfassung vor. Langsam. Getragen. Timbre in der Stimme. Was natürlich Verschwendung wäre. Nanokristalle vor die Säue. Die Musik ist schließlich absichtlich überzogen und künstlich. 100 gecs setzen die Reize der modernen Popmusik ein, bis die Muskeln flimmern. Nicht einmal gegen die Behauptung, sie würden das alles ironisch meinen, haben sie sich jemals richtig gewehrt.

Wer nicht rechtzeitig ausmacht, wird oft süchtig

Das daraus resultierende Hörerlebnis ist so verrückt, dass die meisten Menschen einen nach wenigen Sekunden anflehen, man möge das doch bitte ausmachen (100 gecs konsequent sehr laut zu spielen wäre ein Tipp für die Feiertage mit der Familie, wenn man seine Familie denn dieses Weihnachten sehen könnte). Wer es allerdings nicht ausmacht, wird oft süchtig.

Viele Hörer berichten, dass sie nicht erfassen können, warum sie diese Musik mögen, aber auch nichts anderes mehr hören wollen. Wenn man sich erst einmal an diesen "Hyperpop" gewöhnt hat, erscheint alle andere Musik wie aus einer faden fernen Vergangenheit. Wer hätte gedacht, dass Chart-Pop mal mehr Indie sein würde als alles, was man jemals darunter verstand? Während der Chart-Pop-Superstar Taylor Swift die Charts mit Indiefolk flutet? Irre Zeiten.

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