Kultur in München:Es war ein fieses, schönes Jahr

Zwischen Lockdown-Blues, Streaming-Marathon und Sommerfrische: Wie Kulturinstitutionen und Initiativen in München der Krise trotzen. Ein Blick zurück und nach vorn.

Von Jutta Czeguhn

Man ist wie ein Jongleur, der versucht, die Bälle in der Luft zu halten", sagt Frank Przybilla am Telefon. Das Jahr 2020 geht zu Ende. Wie leicht tippt sich dieser Satz in die Tasten. Das Jahr 2020. Doch welche Schwere klebt da an jedem Buchstaben.

Gerade eben hat der Geschäftsführer der Pasinger Fabrik noch ein Team-Meeting abgehalten. "Ich hab' die Frage in die Runde gestellt, wann wir eigentlich das nächste Programmheft drucken werden. Keiner kann das sagen, ich bin unsicher, jeder Kollege, jede Kollegin, wir alle sind unsicher. Dieses Gefühl hat uns das ganze Jahr verfolgt", seufzt Przybilla. Einem wie ihn, einem ansteckend begeisterungsfähigen Impresario, der immer alles genau und ordentlich geplant haben möchte, verlangt das schon viel ab. Vier Programmplanungen, sagt er, habe es 2020 quasi pulverisiert. Bitter sei das gewesen, ganz bitter.

Ausgebremst im Frühjahr

Fieberkurvig wie die Zahlen auf dem Covid-19-Dashboard des Robert-Koch-Instituts war heuer auch die Betriebstemperatur der Kulturschaffenden in Münchens Stadtvierteln, ob nun in den kommunale Häusern, bei Vereinen, Initiativen, Privattheatern und natürlich den vielen Solo-Selbständigen. Der Tiefpunkt, erzählt Frank Przybilla, sei gewesen, als man schweren Herzens die "Frau Luna" habe absagen müssen. "Wie ein kleines Kind hatte ich mich auf diese Operetten-Produktion gefreut, alles war fertig, Bühnenbild, Kostüme, ein Tross von 60 Leuten im Ensemble." Dann musste er zum Telefon greifen und dem Ensemble die Nachricht überbringen.

Nach außen hin war der Laden dann erst mal dicht, ein enorm irritierender Zustand für ein hochfrequentes Kultursoziotop wie die Pasinger Fabrik. Drinnen wurde der Ideengenerator angeworfen. Kurator Stefan-Maria Mittendorf etwa führte dann ein unsichtbares, stummes Publikum durch seine eben erst gehängte, ziemlich sensationelle Retrospektive des Künstlers Gottfried Peer Ueberfeldt. Der Startbutton am Computer würde in den kommenden Wochen und Monaten eine unglaublich wichtige Rolle spielen, nicht nur für das Publikum der Pasinger Fabrik.

Bedrückende Leere auch im Kulturzentrum an der Wasserburger Landstraße, als dort Anfang Mai Frank Przybillas Truderinger Kollege Winfried Frey seinen ersten Arbeitstag hat. Normalerweise tummeln sich im Haus bis zu 400 Menschen an einem Tag, sie besuchen Konzerte, Sprachkurse, Chorproben, spielen Bridge, üben Yoga oder Capoeira. Rund 2000 Veranstaltungen im Jahr finden dort statt. Nun muss sich der Neue gleich als Krisenmanager bewähren. Doch man sucht sich seine Aufgaben nicht aus.

Und Frey geht vom Start weg daran, das Haus fit zu machen für die Zeit nach dem Frühjahrs-Lockdown, denn sie muss ja irgendwann kommen, die Wiederöffnung. Ein Hygienekonzept wird erarbeitet, Frey zieht einen Münchner Infektiologen hinzu, es gibt Schulungen für das Team. Und man kann auf etwas setzen, um das viele Häuser die Truderinger beneiden dürften: "Luftaustauschanlage" heißt das Zauberwort. An die hatte man gedacht, als das Bürgerzentrum vor etwa 15 Jahren erbaut wurde. "Sechs mal pro Stunde wird die Luft im großen Saal komplett ausgetauscht", erzählt Frey. An die 387 Menschen fasst der Saal. Riesig für eine nicht-kommunale Kultureinrichtung, die zu einem privaten Trägerverein gehört und ihr Budget, abgesehen von Spenden und städtischen Zuschüssen, selbst erwirtschaften muss. Durch Vermietungen an Vereine und Institutionen wie die Volkshochschule, doch die bleiben in den Lockdown-Wochen erst mal weg.

Im anderen Bürgerhaus im Münchner Osten, an der Erika-Cremer-Straße, fährt zu dieser Zeit auch Heinrich Tardt, der Leiter der Kulturetage Messestadt, im Krisenmodus. Die Etage hat keinen großen Konzertsaal wie drüben in Trudering, wo man nun mit nur 90 Besucher planen muss und der Saal bald aussehen wird wie ein löchriges Gebiss. "Wir können hier in der Messestadt auf maximal 180 Plätze bestuhlen, das hat also eher den Charakter eines Wohnzimmers", sagt Tardt. In der Etage will man ein Programm für 50 Menschen aufsetzen, wenn im Sommer wieder gespielt werden darf. Doch auch hier sind Hybridformate im Internet zunächst mal ein sicheres Fallnetz für die Live-Artisten.

Die Mohr-Villa in Freimann. Dort im Norden der Stadt muss Geschäftsführerin Julia Schmitt-Thiel den Laden schon etwas früher als alle anderen runterfahren. Für zehn Tage. Ein Covid-Verdachtsfall, der sich allerdings nicht bestätigt. Als dann auch die Villa in den allgemeinen Lockdown gehen muss, ist für das Team klar: "Wir können den Kopf nicht in den Sand stecken." Zu wichtig, so Schmitt-Thiel, sei das Haus für die Menschen im Stadtteil.

Zunächst, um die Osterzeit herum, ruft die Villa zum Nähen von Mundschutzmasken auf, eine Gemeinschaftsaktion für die Menschen zu Hause. Die Masken gehen an soziale Einrichtungen. Zudem wird die Zeit genutzt, um sowieso anstehende Renovierungsarbeiten im Haus voranzubringen. Selbsthilfegruppen wie die des Blauen Kreuzes dürfen sich allerdings auch weiterhin in der Villa treffen, das Kreisverwaltungsreferat erteilt eine Sondererlaubnis. Unter strengen Hygieneauflagen, versteht sich. Der große Garten der Villa wird eine entscheidende Rolle spielen, wenn die Villa im Sommer ihr Programm wieder hochfahren wird. Doch zunächst gibt es dort open air ein offenes Mal-Atelier für Krebspatienten.

"Als wir das erste Mal in den Lockdown geschickt wurden, war das ein Ausbremsen", erinnert sich Matthias Weinzierl, als man ihn dieser Tage ans Telefon bekommt. Ob im Bayerischen Flüchtlingsrat oder in der Sozialgenossenschaft Bellevue di Monaco, der Grafiker ist keiner, der schnell klein bei gibt. Weinzierl engagiert sich also im April bei "Das Westend tafelt", einer Initiative, die am Karfreitag damit beginnt, kostenlos warme Mittagessen an Bedürftige auszugeben. Die Aktion ruht auf vielen Schultern, Veranstaltungsstätten wie das Köşk oder die Glockenbachwerkstatt sind dabei. Schnell poppt die Idee hoch zu einem Kulturexperiment: "Kunst im Quadrat". Der Ort soll ein besonderer sein. "Es hat sich ja schon früh abgezeichnet, dass das Oktoberfest nicht stattfinden wird", erzählt Weinzierl. Eine leere Theresienwiese im Münchner Sommer. Eine unheimliche, eine tolle Vorstellung.

Ein Sommermärchen

"So fies das klingt, aber es war eine wahnsinnig schöne Zeit", sagt Weinzierl. Es ist nun Ende Dezember, man ist tief im zweiten Lockdown, und was er erzählt, klingt nach "Es war einmal", wie ein Märchen. Ein Sommermärchen. Auf der Theresienwiese hatten sie also im August ein Quadrat gezogen, Schülerinnen regelten den Einlass zum Festival, maximal 200 Leute durften rein. Saßen auf Stühlen mit bunt bemalten Lehnen, erlebten Konzerte, Performances, Kunst, Werkstattgespräche, Lichtkunst, konnten tanzen, lachen, malen. "Alle waren irgendwie so entspannt und waren mit Wenigem glücklich zu machen, etwas, das ich in der Form noch nie erlebt habe", sagt Matthias Weinzierl.

Wochen bevor auf der Oktoberfestwiese das kulturelle Corona-Sommermärchen begann, hatte die Pasinger Fabrik zur "Sommerfrische" gerufen. Euphorie bei der Vorstellung des Festival-Programms in der Wagenhalle Ende Juni, Münchens Kulturreferent Anton Biebl und Frank Przybilla verkünden "die Stunde der kleinen Häuser". Die Fabrik und mit ihr die nahe internationale Kinder- und Jugendbibliothek sind die ersten, die mit Open-Air-Veranstaltungen loslegen, im Garten des Pasinger Ebenböckhauses, im idyllischen Hof der Blutenburg, bei schlechten Wetter in der Wagenhalle der Fabrik. Programm gibt es jeden Tag außer Montag, bis Ende August. Ein Marathon der Spielwütigen, mit Kabarett, Konzerten, aus der Operette "Frau Luna" wird die "Opera Frizzante", Arien von Wagner bis Puccini statt der Berliner Luft von Paul Lincke. "Dieses gemeinsame Erleben von Kultur, das war sooo befreiend", schwärmt Frank Przybilla.

Eine Erfahrung, die alle gemacht haben, auf Münchens Straßen und Plätzen, wo der "Kulturlieferdienst" die Menschen grundversorgt hat, in den Kulturhäusern; Winfried Frey in Trudering, Heinrich Tardt in der Messestadt und Julia Schmitt-Thiel in Freimann, wo es im Garten der Mohr-Villa viele, viele "Gänsehautmomente" gab. Etwa als das interkulturelle "Theater grenzenlos" trotz strömendem Regen losspielt, sein Publikum unter Schirmen ausharrt und man gemeinsam "Seelenstärke 10", so der Titel des Stückes, beweist.

Erschöpfung und großes Hoffen

"Ich hab immer gewarnt, Leute, wartet ab, der Herbst!", sagt Frank Przybilla. Schließlich sei er nicht nur studierter Kulturmanager sondern auch Biologe. Der zweite Lockdown kam, als man gerade eine internationale Kunstschau zu Social Distancing eröffnet hatte. Die Fabrik ist nun also erneut geschlossen. Das Team, das dieses Jahr 2020 so richtig zusammengeschweißt habe, sei erschöpft, sagt der Chef.

Dabei reißt die Arbeit nicht ab, wie in den anderen Stadtteilkulturhäusern wird nun an der neuen Saison getüftelt, Verträge mit Künstlern, oft bereits zwei, drei mal verschoben, müssen neu aufgesetzt, terminiert werden. Für wann, fürs Frühjahr? Für den Sommer oder den Herbst? Oder gleich 2022. "Wir bemühen uns um Optionstermine, damit wir kurzfristig reagieren können", berichtet Winfried Frey. Kulturplanung brauche ausreichend Vorlauf, auch um finanziell sauber zu kalkulieren. Die Landeshauptstadt will die Stadtteilkultur im kommenden Jahr mit Zuwendungen in Höhe von insgesamt 3,7 Millionen Euro fördern. Auch das Kulturzentrum Trudering wird davon wieder etwas abbekommen. Und der Bezirksausschuss will dem Haus eine großen Streaminganlage finanzieren.

Es ist auch die prekäre Situation vieler Künstlerinnen und Künstler, die Leute wie Frey, Julia Schmitt-Thiel oder Matthias Weinzierl antreibt. Das "Kunst im Quadrat"-Team ist dabei, für den Somer 2021 ein neues Festival zu planen. Wenn nicht auf der Theresienwiese, dann irgendwo in der Stadt. "Es war ein krasses Jahr, aber das hat dazu geführt, dass in dieser Stadt plötzlich so viele Dinge möglich wurden. Freiräume wurden neu definiert. Ich bin mir ziemlich sicher, dass sich die Münchnerinnen und Münchner das nicht mehr wegnehmen lassen werden", sagt Weinzierl. Auch Frank Przybilla hat Pläne, vieles werde 2021 neu in der Fabrik, kündigt er an. Das Corona-Jahr, wünscht er sich, dürfe keine verlorene Zeit sein. Eines haben die vergangen Monate für Heinrich Tardt gezeigt: "Kultur wendet Not ab, ist notwendig." Das wird man sicher auch bestätigt finden am Zaun der Mohr-Villa. Dort hängen bunte Folien. Wer vorbeikommt, kann seine Wünsche für 2021 hinterlassen. Es werden gewiss sehr viele werden.

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