Fußball-Fans im Corona-Jahr:Ferne Liebe

08.08.2020, FC Bayern Muenchen - FC Chelsea 08.08.2020, Fussball Championsleague 2019/2020, Achtelfinale, FC Bayern Muen

Leere Kulisse: Die Stehplatzränge in der Arena des FC Bayern.

(Foto: Bernd Feil/MIS/Pool)

Der FC Bayern hat 2020 fünf Titel gewonnen und herausragenden Fußball gespielt. Matthias Hentschel, der sonst zu allen Spielen fuhr, hat nicht mal am Fernseher zugeschaut. Über ein trauriges Jahr für Fans wie ihn.

Von Sebastian Fischer

An den Tag, der sein glücklichster des Jahres hätte sein können, will sich Matthias Hentschel am liebsten gar nicht mehr erinnern. "Wenn das Wetter schön war", sagt er, "habe ich wohl eine Radl-Tour gemacht." Davon, dass der FC Bayern die Champions League gewann, erfuhr er am nächsten Morgen im Büro. Der große Erfolg seines geliebten Vereins: Er ist für ihn nichts wert.

Hentschel, 31, ein Mann mit langem Bart und sanftem bayerischen Dialekt, kommt an einem kalten Dezemberabend mit der U-Bahn aus dem Büro zum verabredeten Spaziergang an der Isar, um über sein trauriges Jahr als Fußballfan zu sprechen. Er ist ein sogenannter "Allesfahrer": Vor Beginn der Pandemie, erzählt er, habe er zehn Jahre lang bei jedem Bayern-Pflichtspiel in der Kurve gestanden, seit fünf Jahren auch bei jedem Testspiel, in München und auswärts. Fußball, das bedeutet für ihn, ins Stadion zu gehen und seine Mannschaft anzufeuern.

Hentschel wird darum bitten, kein Foto von ihm für die Zeitung zu machen, das geht ihm ein bisschen zu weit. Aber er wird erklären, warum er auch das 2:1 gegen Wolfsburg am folgenden Abend, das letzte Heimspiel des Jahres, nicht anschauen wird. Genauso wie alle Spiele seit Mai, die es nur im Fernsehen zu sehen gibt.

Beim Spiel der U23 in Lübeck sahen die Fans von einer Rampe neben dem Stadion den Rasen

Ins Stadion zu gehen, das ist nun seit fast zehn Monaten mit wenigen, unter Hygieneauflagen organisierten Ausnahmen in Deutschland nicht mehr möglich. Fußball ist 2020 zu einem TV-Ereignis geworden, auf den Sport reduziert, mit leeren Tribünen als Kulisse und Stimmen wie jener von Thomas Müller als einsamem Sound. Geisterspiele sind Fußball light, das bestreitet kaum jemand. Eingeschaltet haben trotzdem viele. Auch die Quoten der ARD-Sportschau waren zuletzt wieder hoch.

Bayern-Fans bekamen 2020 alle paar Tage immerhin den besten Fußball der Welt zu sehen: fünf Titel, nur eine Niederlage in 48 Spielen. Gerade für sie war Fußball in diesem Jahr also eigentlich besonders schön, eine Ablenkung vom Corona-Alltag. Einige feierten im August, als die Infektionszahlen niedrig und die Kneipen unter Auflagen offen waren, nach dem Champions-League-Sieg dem Virus zum Trotz in den Straßen. Das war auch deshalb bemerkenswert, weil man sich in manchen Jahren zuvor in der Münchner Innenstadt eher bemühen musste, um mitzubekommen, dass der FC Bayern mal wieder Meister geworden war.

Fußball-Fans im Corona-Jahr: Party auf der Leopoldstraße: Bayern-Fans nach dem Champions-League-Finale.

Party auf der Leopoldstraße: Bayern-Fans nach dem Champions-League-Finale.

(Foto: Stephan Rumpf)

Wenn Hentschel über seine Liebe zum Verein spricht, dann schwärmt er allerdings nicht etwa von den Toren von Robert Lewandowski. Er erzählt eher vom jüdischen Klub-Präsidenten Kurt Landauer, der vor den Nazis floh und wiederkam, den FC Bayern als einen weltoffenen Verein prägte. Hentschel ist Vorsitzender des "Club Nr.12", dem Dachverband der aktiven Bayern-Fans, der ein nicht ganz einfaches Verhältnis zum Verein pflegt - zum Beispiel, weil er sich lautstark am Protest gegen die Geschäftsbeziehungen des Klubs mit dem Emirat Katar beteiligt.

Wie viele Ultras und Fangruppen kritisierte auch der "Club Nr.12", dass die Bundesliga im Mai mit Spielen in leeren Stadion fortgesetzt wurde. "Fußball ohne Fans ist nichts", so lautete die Überschrift einer Stellungnahme. Hentschel findet es auch heute noch kategorisch falsch, dass damals mit dem Argument weitergespielt wurde, einigen Klubs würde sonst die Pleite drohen. Hätten die Spieler, zum Beispiel, halt auf mehr Gehalt verzichten müssen, wie es in anderen Sportarten auch war, so sieht er das. Man tritt ihm wohl nicht zu nahe, wenn man ihn unter den kritischen Anhängern zu jenen zählt, die man je nach Ansicht besonders prinzipientreu oder sonderbar stur nennen kann.

In den ersten Wochen nach dem Neustart fuhr Hentschel mit ein paar Freunden noch regelmäßig hin, wenn ein Spieltag anstand, sie stellten sich neben die Stadien, so nah dran wie es ging. Nach zehn Jahren hört man halt nicht einfach so auf. Am 17. Mai, zum ersten Spiel bei Union Berlin, fuhr er mit ein paar Freunden in die Hauptstadt. Paar Bierchen trinken, bisschen blöd daherreden, singen. "Weil es für mich einfacher war, das zu ertragen, als wenn ich zu Hause gesessen hätte", sagt er.

Fans, die jedes Wochenende ins Stadion gehen, denken beim Fußball nicht nur an Fußball. Sie treffen dort jene, die in der Kurve seit Jahren in der Nähe stehen, die sie dort umarmen, Hände schütteln. Lange her. Manches bekannte Gesicht hat Hentschel seit dem 8. März nicht mehr gesehen, seit einem 2:0 gegen Augsburg vor 75 000 Zuschauern.

Es gab weiter Treffen, doch die meisten Aufgaben, die es in einer Fanvereinigung gibt, fielen aus. Es gab keine organisierten Reisen zu Auswärtsspielen, es gab auch keine Versammlungen aus Protest. In Berlin, sagt Hentschel, waren zwischen 30 und 40 Münchner, in Zehnergruppen auf Abstand.

Neben manchen Stadien hörten sie die Rufe vom Feld und die Ansagen des Stadionsprechers. Die Heimspiele der zweiten Mannschaft im Grünwalder Stadion ließen sich von benachbarten Dachgeschosswohnungen aus verfolgen. In Lübeck sah man von einer Rampe neben dem Stadion den Rasen. Doch meistens sahen sie nichts.

Einige Münchner, von einer hohen zweistelligen Zahl war die Rede, flogen im August zum Champions-League-Turnier nach Lissabon. Eine zweistellige Anzahl an Fans war es auch, sagen sie beim "Club Nr.12", die bis zur nächtlichen Ausgangssperre im Dezember die Zeit während der Heimspiele nahe der Arena in München verbrachte. Ein Treffpunkt war der Fröttmaninger Berg. Auf einer ehemaligen Mülldeponie an der Autobahn.

Fussball Champions League/ Finale/ Paris St. Germain - Bayern Muenchen 0-1 Lucas HERNANDEZ (Bayern Muenchen) mit mit Cup

Freude fürs Fernsehen: Lucas Hernandez nach dem Finalsieg gegen Paris St. Germain mit dem Champions-League-Pokal.

(Foto: Frank Hoermann/Sven Simon/Pool)

Hentschel hörte auf, als er Ende Juli eine Reise ausfallen lassen musste, das DFB-Pokalfinale gegen Leverkusen in Berlin. Da, sagt er, hatte er wichtigeres zu tun: Ein Treffen mit dem Fanbündnis "Unsere Kurve", um Vorschläge auszuarbeiten, den Fußball zu verändern.

So schwer dieses Jahr für Fans auch war, so sehr schien es lange auch eine Chance für sie zu sein. "Unsere Kurve" kritisierte im Frühjahr, als die Pandemie in vielen Klubs wirtschaftliche Not offenlegte, die Strukturen des Profifußballs - und bekam eine so prominente Bühne wie noch nie. Mehr Nachhaltigkeit, mehr Integrität im Wettbewerb, mehr Berücksichtigung von Faninteressen, das waren nicht unbedingt neue, natürlich idealistische, aber nun mit neuen Argumenten angereicherte Kritikpunkte. Sie fanden bei einer breiteren Masse Gehör. Die Deutsche Fußball Liga (DFL) gründete eine "Taskforce Zukunft Profifußball".

"Die Hoffnung auf positive Veränderung war so groß wie nie zuvor", sagt Hentschel an der Isar, aber er sagt es mit Ernüchterung in der Stimme. Als erster Gradmesser für viele Fans, ob es der Profifußball ernst meint mit Demut und Reformwillen, galt die Bekanntgabe des neuen TV-Geld-Verteilungsschlüssels durch das DFL-Präsidium Anfang Dezember. Nicht nur Fans hatten gefordert, die Unterschiede in der Bundesliga anzupassen - was dann mit Rücksicht auf die angespannte finanzielle Lage aber nur vorsichtig geschah. Gerade bei den großen Vereinen, sagt Hentschel, habe er nicht den Eindruck, dass sie tatsächlich versuchen wollen, nachhaltig etwas zu verändern. Gerade vom FC Bayern wünsche er sich mehr Demut.

Andere sahen ein paar wichtige Partien an, weil es dann doch zu schön war, um wegzugucken

Hentschel kennt viele Versionen von Fans in seinem Freundeskreis: Solche, die sich Spiele im Fernsehen anschauten und es genossen. Andere, die ein paar wichtige Partien sahen, weil es dann doch zu schön war, um wegzugucken. Mindestens einen, der dieses Jahr genutzt hat, um sich vom Fußball loszusagen. Er selbst, sagt er, erlebe die viel zitierte "Entfremdung" vom Fußball so stark wie noch nie.

Doch wie die Spiele ausgehen, das interessiert ihn trotzdem. Die Namen der Profis, die der FC Bayern im Sommer verpflichtet hat, kennt er auch. Natürlich wird er wiederkommen, wenn wieder Fans im Stadion erlaubt sind. "Es ist wichtig, dass man den Protest in die Stadien trägt", das ist ein Argument. Das zweite ist aber wahrscheinlich noch etwas wichtiger: "Ich bin so verliebt in den FC Bayern, dass ich nicht nicht ins Stadion gehen könnte."

Einmal, im Spätsommer, ist er fast schwach geworden. Zum Supercup gegen den FC Sevilla in Budapest ließ die Uefa ein paar tausend Zuschauer zu. Er hatte ein Ticket bestellt, Zugfahrkarten gebucht - aber gab sie dann doch zurück. Die Infektionszahlen in Ungarn waren derart gestiegen, dass Bayerns Ministerpräsident Markus Söder die Quarantänemaßnahmen für Reiserückkehrer verschärfte.

Budapest, Hungary, 24th September 2020. fcb fans in the Final UEFA Supercup match FC BAYERN MUENCHEN - FC SEVILLA 2-1 in; Fans

Fußball im Risikogebiet: Bayern-Fans beim Supercup gegen Sevilla im September in Budapest.

(Foto: Imago/ActionPictures)

Viele Fans sind im Sommer nach Osteuropa gefahren, wo es zwischenzeitlich erlaubt war, Stadien zu besuchen. Hentschel war einer von rund 40 Bayern-Anhängern, die Mitte September im Bus nach Tschechien reisten, zu einem Klub namens SK Bayern Krepice. Für ein Spiel in der niedrigsten Amateurliga bastelten sie Fahnen, sangen und zündeten Pyrotechnik.

Sein erstes Spiel nach Beginn der Pandemie sah er mit zwei Freunden Ende Juli auf den Färöern. Den Namen der Partie muss er auf dem Handy nachschauen: Argja Boltfelag gegen Itrottarfelag Fuglafjordur. Sogar ein paar Gästefans waren da, "mit Schal und Fahne". Er lächelt.

Als die Mannschaften einliefen, Amateure, in einem kleinen Stadion namens Inni i Vika, "spätestens da", sagt Hentschel, habe er es gewusst: "Dass die Liebe zum Fußball dableiben wird."

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