Silvester in München:Stille Nacht

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München erlebt ein ruhiges Silvester. Die allermeisten Menschen halten sich an die Ausgangssperre, die Straßen sind leer, und auch die Polizei zieht eine positive Bilanz. Eindrücke aus einer besonderen Nacht.

Von Linus Freymark

Und dann tauchen plötzlich doch noch ein paar Schatten auf. Erst ist es nur einer, der sich am Fenstergriff zu schaffen macht, den Kopf rausstreckt und winkt. Dann erscheinen auch in einigen anderen Fenstern ein paar Silhouetten, gesichtslose Gestalten im Gegenlicht, reißen die Fenster auf, halten ein Sektglas in die bis gerade eben noch so stille Nacht hinaus und prosten sich über die Straßen hinweg zu. Frohes Neues, frohes Neues - danke, euch auch! Das neue Jahr ist da - aber sonst niemand, bis auf die Schatten oben in den Fenstern und die paar Polizisten, die unten auf dem Gärtnerplatz stehen und sich fast schon ein bisschen darüber wundern, dass auch auf Münchens berühmt-berüchtigtem Partyplatz tatsächlich nichts los ist.

"Im öffentlichen Raum wird es kein Silvester geben", hat das Kreisverwaltungsreferat vor dem Jahreswechsel mitgeteilt, und die Vorgabe der Behörden wird erfüllt: München hat ein ruhiges Silvester erlebt, ohne betrunkene Massen am Friedensengel, am Gärtnerplatz, auf der Theresienwiese und all den anderen Orten der Stadt, an denen sich in normalen Jahren Wildfremde ein frohes neues Jahr ins Gesicht brüllen, eine Ladung Bierspeichel gratis dazu. Es war ein Silvester, wie man es sich aus Infektionsschutzgründen nur wünschen konnte. Entsprechend positiv fällt die Bilanz von Polizei und Feuerwehr aus, schon in der Nacht sagt ein Polizeisprecher, dass man ausschließlich "Kleinkram" abarbeite. Mehr als 600 Einsätze werden es am Ende im gesamten Stadtgebiet sein, darunter vor allem Ruhestörungen. 225 dieser Einsätze betreffen Verstöße gegen das Infektionsschutzgesetz, 160 Mal geht es dabei um die Ausgangssperre, in 60 Fällen um Verstöße gegen die Kontaktbeschränkung, kleinere Partys, "nichts Dramatisches", meint der Polizeisprecher in der Nacht. Am Freitag bestätigt das Präsidium die Eindrücke: Der Jahreswechsel 2020/21 sei ein aus polizeilicher Sicht "gelungener Silvesterabend" gewesen.

Doch in den letzten Stunden des alten und den ersten des neuen Jahres durch die Stadt zu laufen und all die Orte zu sehen, an denen sonst gefeiert, gelacht, getrunken und geböllert wird, stimmt auch ein bisschen wehmütig.

23.30 Uhr, Reichenbachbrücke. Normalerweise würden ein paar Voreilige jetzt die ersten Raketen zünden, während sich andere noch eine leere Sektflasche schnorren, weil sie vergessen haben, dass man so eine Rakete ja nicht aus der Hand abfeuern kann. Normalerweise, wenn die Menschen hier und im Rest von München das nun auslaufende Jahr begrüßt haben, haben sie die gesamte Innenstadt im Böllernebel versenkt. In diesem Jahr ist der einzige Dampf in der Luft der eigene Atem. Zwei Polizisten kommen über die Brücke geschlendert, unter ihnen rauscht die Isar auf ihrem Weg Richtung Donau hindurch. Wie viel Lärm so ein Fluss doch machen kann. Eigentlich gibt es ja immer etwas, das das Wasser übertönt, die Hupe eines Autos, das Rattern einer Trambahn, die Gespräche der Wartenden vor dem Kiosk. Aber heute holt sich niemand Nachschub für die Nacht, ist ja verboten, nur eine Trambahn ruckelt über die Brücke, und nur vereinzelt rauscht ein Auto über die Brücke und verschwindet auf der anderen Flussseite, schnell weg hier, ist ja Ausgangssperre. Das einzige Geräusch, das sich mit dem des Flusswassers vermischt, ist das Klackern der Sehbehindertenhilfe an der Ampel: Klack klack, klack klack.

Im Süden funkeln die roten Lichter des Heizkraftswerks Süd. Wenn man nächstes Jahr wieder auf der Brücke stehen sollte, dann vielleicht schon wieder im Böllernebel und Betrunkenengegröle, werden manche der Lichter wahrscheinlich nicht mehr da sein, das Kraftwerk wird gerade rückgebaut. Typischer Silvestergedanke, Aufbruch, Veränderung - wie schnell doch die Zeit vergeht. Klack klack, klack klack.

Und jetzt sind es auch nur noch fünf Minuten, dann beginnt das neue Jahr, also runter von der Brücke, auf zum Gärtnerplatz. Auch hier haben Polizisten Stellung bezogen, drei Mannschaftswagen stehen herum, davor die Beamten, die Mützen wegen der Kälte so tief ins Gesicht gezogen, dass nur ein kleiner Schlitz zwischen Kopf- und Mund-Nasen-Bedeckung bleibt. Auch hier: Stille, bis auf ein paar Böllerschüsse in der Ferne. Ein Bus kommt über das Rondell des Gärtnerplatzes angefahren, kein einziger Fahrgast sitzt darin. So kann der Busfahrer, der ungeduldig auf einer nicht angezündeten Zigarette herumkaut, vor den Beamten rechts ranfahren, die Türe öffnen und "Guten Rutsch, Jungs!" wünschen. Die "Jungs" bedanken sich artig, aber da sind der Bus und sein Fahrer schon wieder weg. Die Kippe wartet.

Dann ist es soweit. Mitternacht. Die Fenster gehen auf, Wunderkerzen und Sektgläser werden herausgehalten. "Polizei, Happy New Year!", ruft eine Frau auf den Platz hinunter. Die Polizisten winken zurück. Frohes Neues! Dann verteilen sie untereinander Ellbogenchecks, ein frohes, ein gutes, ein hoffentlich besseres neues Jahr wünschen sie sich. Als sie vor einem Jahr hier standen, gab es die Delikte, deretwegen sie in diesem Jahr so häufig gerufen wurden, noch gar nicht und die meisten derjenigen, die damals hier gefeiert haben, hätten nie gedacht, dass sie nächstes Jahr nicht wieder kommen dürfen. Bayerisches Infektionsschutzgesetz - bitte was?

Auch vor dem Rathaus auf dem Marienplatz stehen Polizisten, gegenüber am anderen U-Bahn-Eingang hat ein Trupp der U-Bahnwache Stellung bezogen und auf der anderen Seite des Platzes, vor dem großen Kaufhaus Wormland, das jetzt auch schon seit mehr als zwei Wochen coronabedingt dicht ist, lässt eine Gruppe Sanitäter das Jahr Revue passieren. Es kotze ihn an, sagt einer von ihnen, ein junger Mann, keine 30, die eine Hand tief in der Tasche seiner Rettungsjacke, die andere hält eine Zigarette. Im Frühjahr, als es losging mit Corona, hätten die Leute noch für sie und das Pflegepersonal geklatscht. Kann man sich nichts von kaufen, aber immerhin, ein bisschen Anerkennung. Kurz darauf aber sei es wieder vorbei gewesen mit der Freundlichkeit, mittlerweile werde er wieder angepöbelt, "und das ist eher der Normalfall als der Einzelfall". Vielleicht wird es ja besser, sagt der junge Sanitäter, er hoffe es zumindest.

1.30 Uhr, die letzte Station dieser Nacht. Das Neuraum an der Hackerbrücke ist der größte Club der Stadt, 2500 Gäste, fünf Areas, an Silvester ist der Laden normalerweise immer voll. Und normalerweise hört man schon von der Brücke aus das Wummern der Bässe und das Lachen und die Gespräche der Gäste. Jetzt knirscht nur das Streugut unter der Schuhsohle, keine Musik, keine Lichter, keine Party. Und auch das Schild, unter dem die Gäste sonst darauf warten, vom Türsteher inspiziert und im Idealfall reingelassen zu werden, das Schild, das eigentlich immer irgendwelche Parties und Veranstaltungen ankündigt, ist ausgetauscht. Anstatt die Leute für die nächste Nacht zu ködern, wirbt dort eine Firma nun damit, dass ihr Schnelltest in unter 15 Minuten "hochpräzise Ergebnisse" liefert.

Das Jahr 2020 hat Münchens größten Club zur Corona-Teststation werden lassen.

© SZ vom 02.01.2021 - Rechte am Artikel können Sie hier erwerben.
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