Chronobiologie:"Endlich die Erlaubnis, faul zu sein"

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Winter und Lockdown - das kann auch eine Chance sein, zum Beispiel um zu entspannen.

(Foto: imago images/Westend61)

Winter und Dunkelheit schlagen vielen Menschen aufs Gemüt. Doch das muss nicht sein. Der Chronobiologe Till Roenneberg erklärt, wie man trotzdem gute Laune bekommen kann - und warum Schnee ein Geschenk fürs Gehirn ist.

Interview von Philipp Crone

Der Chronobiologe Till Roenneberg forscht über den Einfluss von Licht auf den Menschen, was turnusgemäß im Winter besonders interessant ist. In dieser Zeit haben viele das Gefühl, Dunkelheit schlage ihnen aufs Gemüt. Stimmt aber nicht, sagt der 67-jährige Wissenschaftler. Ob Schlaf, Schnee, Licht oder die gerade andauernde Corona-Situation: Für den Professor der Chronobiologie vom Münchner Institut für Medizinische Psychologie kann es kaum Spannenderes geben. Etwa die Erkenntnis, wie viel Schlaf der Mensch offenbar wirklich braucht.

SZ: Herr Roenneberg, welches Wetter ist denn das schlechteste für die Laune?

Till Roenneberg: Entscheidend ist die Einstellung zum Wetter. Wenn ich erwarte, dass gute Laune mit Sonne, Strand und Draußensein zusammenhängt und ich nur dann gute Laune bekomme, wenn ich viel unternehmen kann, dann ist die jetzige Jahreszeit und die momentane Situation natürlich die mit Abstand schlechteste.

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Klingt, als käme jetzt ein Aber.

Genau. Wenn ich aber annehme, dass der Winter eine Ruhezeit ist, in der ich mich zum Beispiel hinlegen darf, wann immer ich müde bin, weil es das soziale Protokoll erlaubt, ändert sich vieles. Wenn ich einfach verstehe, dass diese Zeit gerade völlig anders ist als der Sommer, auch von der Biochemie des Körpers her, kann ich sie genießen. Ich kann Schlaf nachholen, Gespräche führen, viel lesen, mich warm anziehen und ins Bett kriechen, selbst wenn ich nicht schlafe. Ich kann viele Dinge machen, die ich mir sonst nicht zugestehe. Und das erzeugt Glücksgefühle.

Warum?

Wenn ich sage: Ich habe endlich mal Zeit und die Erlaubnis, faul zu sein, macht das doch sehr gute Laune.

Wenn man über den Lockdown spricht, geht es sehr viel um Erwartungen.

Es geht beim Menschen immer um Erwartungen. Wenn man in der Lage ist, die derzeitige Situation anzunehmen, ist das natürlich ein Vorteil. Wobei mir schon klar ist, dass das in einer Zwei-Zimmer-Wohnung mit vier Kindern schlecht möglich ist. Aber Home-Office und Lockdown haben grundsätzlich wahnsinnige Vorteile für die Menschen, allein schon weil der Weg zur Arbeit wegfällt und damit ganz viel zusätzliche Zeit da ist, zum Beispiel zum Schlafen.

Chronobiologie: Der Münchner Forscher Till Roenneberg, 67, ist Professor für Chronobiologie am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität.

Der Münchner Forscher Till Roenneberg, 67, ist Professor für Chronobiologie am Institut für Medizinische Psychologie der Ludwig-Maximilians-Universität.

(Foto: Privat)

Über Jahrzehnte ging es immer um noch schneller, noch mehr. Also darum, die Zeit zu nutzen - nicht zu schlafen.

Da sind wir wieder bei Erwartungen. Ich kenne das auch, das schlechte Gewissen, wenn ich an einem Tag nicht genug getan habe. Ich erlaube mir dann trotzdem, zum Beispiel mit meinem Computer zum Schreiben um 15 Uhr unter die Bettdecke zu gehen, wenn es draußen schon fast wieder dunkel wird. Das ist einfach gemütlich.

Und effizient?

Die Effizienz das Maß aller Dinge. Wenn ich zehn Stunden brauche, um ein Kapitel zu schreiben, saß ich zwar zehn Stunden am Schreibtisch, war aber nicht effizient. Wenn ich zwei Stunden länger schlafe und dann nur drei Stunden für das Kapitel brauche, habe ich einen riesigen Zeitvorteil. Im Prinzip ist der Schlaf wie ein Boxenstopp in der Formel 1.

Zeitlich ist da aber ein großer Unterschied.

In einem Rennen geht es zunächst ums Gewinnen, das ist ja bei uns Menschen im Alltag ähnlich. Wir müssen unser Rennen unterbrechen, um die Effizienz zu erhöhen.

Beim Boxenstopp geht es auch um eine möglichst kurze Zeit.

Wir müssen an die Box, um das zu erledigen, was erledigt werden muss. Das, was der Schlaf macht, kann man nicht schneller machen, da gibt es keine Optimierung.

Wie kommt man gut durch die dunkle Jahreszeit?

Rausgehen, und zwar am Mittag. Da bekommt man am meisten Licht, und im Lockdown kann man das machen, von 12 bis 13 Uhr spazieren. Selbst an einem grauen Tag kommt man auf 15 000 Lux. Wenn Sie Ihr Zimmer optimal ausleuchten, kommen Sie auf höchstens 400 Lux.

Und mit Schnee?

Noch besser, da bekommen Sie zehn Mal mehr Licht. Wenn ich vor mich hin spaziere und auf den braunen Boden schaue oder auf den reflektierenden Schnee, das ist wie ein Spiegel, ein gewaltiger Unterschied.

Ein Sonnentag hat dann wie viel Licht?

Da bekommen Sie mehr als 100 000 Lux, aber das ist längst im Sättigungsbereich.

Wie viel Licht brauchen wir denn?

Ein paar Stunden am Tag sollte man ein paar Tausend Lux kriegen. Aber das kriegen wir ja selbst im Sommer nicht, wenn wir den ganzen Tag im Büro sitzen.

Wie unterscheidet sich denn dieser Januar von dem im Winter 2019?

Man hat das Recht, seine Zeit individueller einzuteilen und rauszugehen. Das birgt viele Chancen. Wir werden demnächst eine Arbeit veröffentlichen, in der wir 10 000 Menschen aus 30 Ländern im März und April befragt haben. Das Ergebnis war, dass die Menschen in den Ländern, in denen man nicht rausgehen durfte, deutlich weniger Lebensqualität verspürt haben.

Was bringt ein Spaziergang im Dunkeln?

Ein Spaziergang an der frischen Luft führt dazu, dass ich besser schlafen kann, weil ich mich bewegt habe. Und ich Kontakt zu anderen Menschen und neuen Umgebungen habe. Es geht ja auch immer um das Vermeiden von Monotonie.

Inwiefern?

Das Gehirn will immer neue Ereignisse. Wenn es die nicht bekommt, vergeht die Zeit nicht. Rückblickend kann man sich aber an diese Zeit nicht erinnern, weil sie in der Erinnerung zusammenschrumpft. Deshalb ist älteren Menschen in ihrer Routine oft langweilig und trotzdem ist immer gleich wieder Weihnachten.

Was hat das mit Spazieren zu tun?

Spazieren gibt dem Gehirn neue Informationen. Der Tag vergeht also schneller und verpufft hinterher nicht im Nichts.

Und dann möglichst noch in der Sonne.

Licht hat direkte Auswirkungen auf unsere Biochemie und macht uns fröhlicher. Man muss sich klar machen: Aus der Situation das Beste zu machen ist immer möglich.

Das wäre bei Ihnen gerade?

Ich mache jeden Mittag einen Spaziergang und dann noch einen kürzeren, bevor ich ins Bett gehe. Unser Gehirn ist einfach wahnsinnig interessiert an Neuigkeiten. Und eines der wichtigsten Dinge für das Gehirn sind Gesichter. Wenn ich U-Bahn fahre, sehe ich Hunderte Gesichter, die erst einmal gespeichert werden und mein Hirn beschäftigen. Im Schlaf schmeißt es die Gesichter dann wieder raus.

Was wegfällt, wenn man nur daheim ist.

Deshalb muss ich mir Abwechslung beschaffen. Sonst verkümmert mein Gehirn und wird depressiv. Da kommt der Schnee gerade sehr gelegen.

Warum?

Schnee ist für das Gehirn ein neues Szenario. Da hat es jetzt richtig was zu tun, wenn man rausgeht. Ganz abgesehen von den Gestaltungsmöglichkeiten. Schneemann bauen, Bälle werfen. Oder ganz einfach nur die Schneeflocken beim Fallen beobachten, das ist doch wie Ferien. Das ist die eine Möglichkeit, das Gehirn gut zu behandeln, ihm etwas zu tun zu geben. Die andere ist, dass ich ihm sage: Du bekommst keine Informationen, weil wir jetzt im Winter eine Ruhepause machen und viel schlafen, das funktioniert auch.

Wie viel sollte man denn schlafen?

Wir haben in unserer Studie festgestellt, dass wir im Schnitt nicht 7,5 Stunden brauchen, wie bisher gedacht, sondern 8,5.

Wie kommen Sie denn zu dieser Schlussfolgerung?

Wir haben die Leute gefragt, was sie vor und im Lockdown gemacht haben. Diejenigen, die vorher weniger als 8,5 Stunden geschlafen haben, schliefen jetzt viel mehr. Die Leute, die vorher schon 8,5 Stunden schliefen, haben genauso viel im Lockdown geschlafen. Daraus schließen wir, dass dort die magische Zahl liegt.

8,5 Stunden - so viel kriegt der Durchschnittsgestresste eher nicht.

Wir brauchen wahrscheinlich alle viel mehr Schlaf, um wirklich glücklich zu sein. Aber da wir wie alle anderen Tiere unter Stress Schlaf gut verkürzen können und durch Beruf und Kinder ohnehin alle dauergestresst sind, haben wir uns daran gewöhnt. Jetzt können wir im Lockdown Schlaf nachholen und ausgleichen. Wir müssen begreifen, dass diese Jahreszeit dafür da ist, mehr zu schlafen.

Wie steht es mit dem Mittagschlaf?

20 Minuten sind nicht so gut. Eineinhalb Stunden sind gut.

Warum?

20 Minuten sind gut, wenn man dadurch verhindert, dass man gegen einen Baum fährt. Ein Nap ist wie ein Schokoriegel: Er verhindert das Schlimmste, ist aber keine Mahlzeit. Am besten sind 90 Minuten, weil man einen Schlafzyklus lang schlafen sollte. Kann man derzeit auch gut trainieren.

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