Misshandlungen in Behinderteneinrichtung:Eingesperrt und angebunden

Missbrauchsvorwürfe gegen die Behinderteneinrichtung Wittekindshof in Bad Oeyenhausen

Ein Gebäude auf dem Gelände des Wittekindshofs in Bad Oeynhausen. Hier sollen 32 Bewohner mit geistiger Behinderung misshandelt worden sein.

(Foto: Kerstin Lottritz)

In einer Behinderteneinrichtung in Bad Oeynhausen sollen Bewohner schwer misshandelt worden sein. Ermittelt wird gegen 145 Ärzte, Betreuer und Pflegekräfte, und die Untersuchungen sind noch lange nicht abgeschlossen.

Von Kerstin Lottritz, Bad Oeynhausen

Urige Fachwerkhäuser, moderne Wohngebäude, ein kleiner Park säumen die Pfarrer-Krekeler-Straße in Volmerdingsen, einem Ortsteil der ostwestfälischen Kurstadt Bad Oeynhausen. Zwischen den etwa 50 Häusern, die sich hier wie ein kleines Dorf zusammenschließen, schlängeln sich Sackgassen und schmale Fußwege, die zu einem Dorfplatz, einer Kirche und verschiedenen Werkstätten führen. Der Dorfcharakter ist das, was die Diakonische Stiftung Wittekindshof, eine Sozialeinrichtung für Menschen mit geistiger Behinderung, ausmacht. Die Bewohner können sich hier frei bewegen, die Straßen sind öffentlich zugänglich.

Am Dienstagvormittag ist im strömenden Regen nicht viel von dieser Freiheit zu spüren. Nur ein paar Jugendliche sind unterwegs, die sich am lauten Klirren der in den Glascontainer fallenden Flaschen erfreuen. Was den Ort an diesem Vormittag so bedrückend macht, ist der Vorwurf, dass hier Bewohner misshandelt worden sein sollen. Es geht um Freiheitsberaubung und gefährliche Körperverletzung. Die Ermittlungen laufen seit Herbst 2019, sagt Christopher York von der Bielefelder Staatsanwaltschaft. Bei mehreren Durchsuchungen habe die "Ermittlungskommission Herbst" viele Akten beschlagnahmt, deren Auswertung erst nach und nach das Ausmaß dieses Falls offenbare.

Ermittelt wird derzeit gegen 145 der etwa 3500 Mitarbeiter des Wittekindshofs, unter ihnen der ehemalige Leiter des Geschäftsbereichs 4, in dem vor allem Menschen untergebracht waren, die aufgrund ihrer psychischen Beeinträchtigung auf besonders enge Begleitung angewiesen sind, außerdem Ärzte und verantwortliche Betreuer sowie Pflegekräfte. In den Fokus geraten sind dabei nicht nur diejenigen, die die freiheitsentziehenden Maßnahmen möglicherweise angeordnet haben, sondern auch Pflegekräfte, die die Anweisungen umgesetzt haben.

Bewohner sollen unter anderem über längere Zeiträume im Zimmer eingeschlossen, in einem sogenannten Time-out-Raum untergebracht oder auf einem Stuhl oder einer Matte fixiert worden sein, ohne dass es einen richterlichen Beschluss dafür gegeben haben soll. Aktuell gehen die Ermittler von 32 mutmaßlichen Opfern aus.

Wenn er auf Toilette musste, sollte er in eine Flasche urinieren

Einen früheren Bewohner vertritt der Anwalt Martin Rother. Ende 2018 erstattete die Schwester des fast 30-jährigen Mannes Anzeige wegen Freiheitsberaubung, nachdem sie festgestellt hatte, dass man ihren geistig behinderten Bruder offenbar mehrere Monate in seinem Zimmer isoliert hatte. Wollte er die Toilette benutzen, musste er zunächst klopfen, später reichte man ihm nur noch eine Flasche hinein, in die er urinieren sollte. Teilweise wurde er, so lauten die Vorwürfe, wohl mehrere Stunden lang unbeaufsichtigt in seinem Zimmer fixiert. Auch soll er unter Einfluss von Medikamenten gestanden haben. Nach seiner Entlassung Ende 2018 war er, so schildert es die Familie ihrem Anwalt, in einem desolaten Zustand.

Maßnahmen wie Fixierung können in Behandlungszentren für Menschen mit geistiger Behinderung vorkommen - zum Schutz der Patienten vor sich selbst oder zum Schutz des Personals. Jedoch muss davor immer erst Rücksprache mit dem jeweiligen gesetzlichen Betreuer gehalten werden und es bedarf einer richterlichen Anordnung, die auch nachgereicht werden kann. Dies ist im Wittekindshof offenbar in mehreren Fällen nicht geschehen.

Wurde widerrechtlich Reizgas eingesetzt?

Die mutmaßlichen Misshandlungen können aber noch weiter gegangen sein. Polizei und Staatsanwaltschaft berichten in einer gemeinsamen Erklärung, dass in 21 Fällen CS-Gas gegen Bewohner eingesetzt worden sein soll. Staatsanwalt York betont, dass man noch dabei sei, in jedem einzelnen Fall zu prüfen, ob der Einsatz von Reizgas eventuell aufgrund von Notwehr gerechtfertigt war.

Der Vorstand der Einrichtung, Pfarrer Dierk Starnitzke, möchte sich während der laufenden Ermittlungen nicht äußern. "Wir sind bestürzt und tief betroffen", heißt es in einer Presseerklärung. "Wenn im Wittekindshof Maßnahmen ergriffen wurden, die nicht rechtmäßig und strafbar gewesen sind, dann distanzieren wir uns davon klar und deutlich." Es habe bereits Konsequenzen gegeben. So wurde der Geschäftsbereich 4 aufgelöst und auf drei Geschäftsbereiche aufgeteilt. Der Leiter sei vom Dienst suspendiert, eine zusätzliche Fachdienstleitung eingesetzt und die Standards zu Gewaltprävention und freiheitsentziehenden Maßnahmen seien überprüft und überarbeitet worden.

In Bad Oeynhausen ist man bestürzt angesichts der Vorwürfe. Auf dem Supermarktparkplatz nahe der Einrichtung schütteln Passanten, wenn man sie anspricht, nur den Kopf oder murmeln "Schlimm, schlimm" durch ihren Mundschutz. Auch Bürgermeister Lars Bökenkröger (CDU) ist betroffen ob der Vorwürfe gegen die Einrichtung, die seit 1887 im Ort ansässig ist. "Uns ist wichtig, dass die Geschehnisse aufgearbeitet werden", sagt er am Telefon. "Wenn es Verfehlungen gegeben haben sollte, muss es Konsequenzen geben."

Unregelmäßigkeiten auch in einer anderen Einrichtung

Der Fall schlägt auch weitere politische Wellen. Das nordrhein-westfälische Ministerium für Arbeit, Gesundheit und Soziales weiß seit Dezember 2020 von den Ermittlungen und hat eine Projektgruppe zur Aufarbeitung eingerichtet. In einer weiteren Einrichtung der Diakonischen Stiftung Wittekindshof wurden ebenfalls Unregelmäßigkeiten bei den freiheitsentziehenden Maßnahmen festgestellt. Der Träger sei aufgefordert worden, das Personal entsprechend zu schulen, teilt das Ministerium auf Anfrage mit.

"Menschenwürde gestalten" heißt ein Leitspruch auf der Internetseite der Sozialeinrichtung. Die beschlagnahmten Akten aus dem Wittekindshof könnten noch mehr Fälle offenbaren, in denen das Leitbild der Einrichtung nicht eingehalten wurde. Es sei nicht absehbar, so Staatsanwalt York, wann die komplexen Ermittlungen abgeschlossen seien.

Zur SZ-Startseite

SZ PlusOdenwaldschule
:Der Schatten der Täterhäuser

Vor zehn Jahren wurde der Skandal an der Odenwaldschule publik. Wie erging es dem Ort und den Menschen seither? Eine Geschichte über Albträume, verlorene Kindheiten und ein Internat, das aus Tatorten bestand.

Lesen Sie mehr zum Thema

Jetzt entdecken

Gutscheine: