Niederländische Regierung:Kollektiver Rücktritt

Mark Rutte

Bleibt zunächst geschäftsführend im Amt: der zurückgetretene Premier der Niederlande Mark Rutte.

(Foto: Sem van der Wal/AFP)

Wegen strenger neuer Gesetze forderten die Niederlande Kindergeld von 20 000 Eltern zurück und stellten diese vor große Probleme. Eine Kommission enthüllte staatliches Versagen und die Regierung von Premier Rutte zieht drastische Konsequenzen.

Von Thomas Kirchner

Zwei Monate vor der Parlamentswahl und mitten in der Corona-Krise ist die niederländische Regierung kollektiv zurückgetreten. Sie zog die Konsequenz aus einer Affäre um Kindergeld, das der Staat von 2013 an zu Unrecht von etwa 20 000 Eltern zurückgefordert hatte. Eine Kommission, welche die Praxis untersucht hatte, stellte vor vier Wochen ein eklatantes Versagen auf mehreren staatlichen Ebenen fest.

"Was passiert ist, ist heftig. Der Rechtsstaat hat versagt", sagte Ministerpräsident Mark Rutte. "Der Rechtsstaat muss Bürger gegen eine allmächtige Obrigkeit schützen, und das ist hier auf erschreckende Weise nicht geschehen." Tausenden Eltern sei großes Unrecht angetan worden. "Die politische Verantwortung liegt bei dieser Regierung, und nirgendwo anders."

Eine direkte eigene Verantwortung wies Rutte zurück. Aller Voraussicht nach wird ihn seine in Umfragen deutlich führende rechtsliberale Partei für die Wahl am 17. März wieder als Spitzenkandidaten aufstellen. Der 53-Jährige ist seit 2010 Ministerpräsident. Seit 2017 regierte er zusammen mit Christdemokraten, Linksliberalen und einer kleinen christlichen Partei. Der ebenfalls rechtsliberale Wirtschaftsminister Eric Wiebes erklärte seinen sofortigen Rücktritt. Schon am Donnerstag hatte Lodewijk Asscher, Spitzenkandidat der Sozialdemokraten und zur fraglichen Zeit Sozialminister, wegen der Affäre seinen Abschied aus der Politik erklärt.

Manche Eltern mussten wegen der Regel Besitz verpfänden

Der harte und teilweise unbarmherzige Umgang mit den Geldempfängern muss vor dem Hintergrund der finanziellen Schieflage des niederländischen Haushalts nach der Finanzkrise 2008/09 gesehen werden. Die Regierung sah sich gezwungen, das hohe Defizit durch grobe Sparmaßnahmen in fast allen Bereichen zu senken. Unter anderem versuchten Kabinett und Parlament, ein System gegen Sozialbetrug aufzubauen, zusätzlich angefeuert durch einen kurz zuvor bekannt gewordenen systematischen Betrug durch bulgarische Migranten. Dies, so die Untersuchungskommission, habe eine "rigorose" Gesetzgebung geschaffen. Eltern gerieten pauschal in Betrugsverdacht, wenn sie einen Fehler bei der Beantragung gemacht oder einen zu geringen Eigenbeitrag geleistet hatten. Eine Härtefallregelung gab es nicht, individuelle Umstände wurden nicht berücksichtigt.

Manche Eltern mussten in der Folge auf einen Schlag Zehntausende Euro zurückzahlen, sich tief verschulden und Besitz verpfänden. Beschwerden wurden nicht zugelassen oder von der Justiz bis zum Höchsten Gericht zurückgewiesen. 2017 kamen Zweifel an der Praxis auf, doch erst 2020 geriet das Ausmaß des verursachten Leids und des Fehlverhaltens der Behörden in den Blick. Alle Betroffenen sollen nun 30 000 Euro Entschädigung erhalten, gegebenenfalls auch mehr.

Das System der Kinderzuschläge wird nun reformiert

Teil der Affäre und Grund für zusätzliche Kritik an der Regierung ist, dass Fakten zu den Vorgängen nur stückweise und spärlich veröffentlicht wurden. Künftig sollen die Aufzeichnungen von Beamten oder Beratern, die Kabinettsbeschlüssen zugrunde liegen, sofort veröffentlicht werden. Das System der Kinderzuschläge wird reformiert. Das Kabinett bleibt bis zur Wahl geschäftsführend im Amt. Neue Beschlüsse sollen nur für die Abwicklung der Affäre sowie für die Corona-Bekämpfung gefällt werden. So wird wegen der anhaltend hohen Zahl an Infektionen eine nächtliche Ausgangssperre erwogen.

Die Opposition begrüßte den Rücktritt. Der Rechtsnationalist Geert Wilders sprach von einem "guten, richtigen Entschluss. Das Leben so vieler Menschen ist verwüstet worden". Allerdings sei nicht zu verstehen, warum Hauptverantwortliche wie Rutte nun einfach weitermachten und sich anschickten, auch noch die kommende Regierung anzuführen.

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