Einzelhandel:Der Stoff, aus dem die Albträume sind

Coronavirus - Lockdown

Alles muss raus: Vielen deutschen Modefirmen ging es schon vor der Pandemie schlecht. Nun kommt alles noch schlimmer.

(Foto: David Hutzler/dpa)

Während Online-Händler wie Amazon und Zalando von einem Rekord zum nächsten eilen, stehen viele deutsche Modefirmen und Fachgeschäfte am Abgrund. Weil sie die Digitalisierung verschlafen haben? So einfach ist es nicht, sagen die Betroffenen.

Von Michael Kläsgen

Klar ist der Onlinehandel ein Thema für die Modehäuser in der Innenstadt. Und was für eins: ein Ärgernis, ein Aufreger und auch ein Anlass, mal ein paar Dinge richtigzustellen - aus ihrer Sicht jedenfalls. "Uns wird vorgeworfen, dass wir uns nicht rechtzeitig digitalisiert haben", sagt Thomas Zumnorde-Mertens. "Aber dem widerspreche ich entschieden." Die 23 Schuhhäuser des Händlers aus Münster seien bereits 2011 in den Onlinehandel eingestiegen. Heute biete Zumnorde die ganze Palette von Click & Collect bis zum Whatsapp-Shopping. "Die Kunden suchen uns", sagt Zumnorde-Mertens. Und zwar jetzt im zweiten Lockdown ganz gezielt online.

Trotzdem reicht es nicht.

Zumnorde hat eigentlich alles richtig gemacht. Der Onlineanteil des Mittelständlers hat sich im vergangenen Jahr verdoppelt und liegt jetzt jenseits der 40 Prozent des Umsatzes. Und das "ganz ohne Plattform", wie Zumnorde-Mertens sagt. Also ohne die technische Hilfe eines Online-Marktplatzes etwa von Zalando oder Amazon. Doch um die insgesamt 800 000 Euro Miete im Monat zu zahlen, ist das zu wenig. "Wir stehen an einer Klippe", sagt Zumnorde-Mertens. "Wir kämpfen um jeden Schuh."

Der Mann aus Münster ist einer der Händler, die der Branchenverband für Textil, Lederwaren und Schuhe zu einer Videopressekonferenz eingeladen hat, um die dramatische Situation an Beispielen zu verdeutlichen. Keine Frage: Da gehört Jammern zum Programm. Dem Modehandel geht es aber ganz objektiv elend, jedenfalls dem stationären. Während Onlinehändler wie Amazon, Zalando oder Global Fashion an der Börse neue Höchststände erklimmen, darben Firmen wie Esprit, Galeria Karstadt Kaufhof, Sinn, Appelrath Cüpper, Hallhuber und Adler. Manche sind zahlungsunfähig, andere haben die Insolvenz abgeschlossen, fast alle kämpfen ums Überleben.

In der Videorunde macht sich keiner Illusionen darüber, dass weitere Händler nicht auf der sicheren Seite der Klippe stehen bleiben werden. "Wer sich nicht anpasst, der wird hinten runterfallen", prophezeit Steffen Jost, Präsident des Branchenverbandes BTE und Chef der Modehäuser Jost. Sich anpassen heißt in dem Fall: sich digitalisieren. Jost sagt das zwar nicht so, aber in der verbandsfernen Digitalszene ist klar, dass damit weit mehr gemeint sein muss, als einen Online-Shop zu betreiben.

Davon sind E-Commerce-Profis wie Alex von Harsdorf überzeugt. Der Gründer von Livebuy, einer Plattform, die so etwas wie Teleshopping im Internet betreibt, will dem Onlinehandel mehr Lebendigkeit, mehr Austausch, mehr Reaktivität einflößen - ein wenig so wie es in China seit Jahren auf Plattformen wie Taobao Usus ist. Obwohl es Livebuy seit noch nicht einmal einem Jahr gibt, hat Harsdorf schon Handelsketten wie Douglas oder Tchibo als Kunden gewonnen. Er wundert sich allerdings, warum Modehändler erst jetzt über die Möglichkeiten des Live-Shoppings nachdenken - jetzt, mit dem Blick in den Abgrund.

Für viele wäre das der Schritt in eine neue Welt, ein großer Schritt. Manche haben noch nicht mal einen Online-Shop, sie haben noch nicht mal den ersten Schritt hin zur Digitalisierung gemacht.

Auf Verbandsseite sieht man zwar die Notwendigkeit, hier einiges aufzuholen, man hält sich aber vor allem für einen Garanten der Innenstädte. Und da könne der Onlinehandel nicht helfen, sagt Präsident Jost. Im Gegenteil: "Hören Sie auf, den digitalen Handel als Lösung zu bezeichnen", sagt er mit Blick auf die Politik: "Es ist keine Lösung."

Die Lösung liege vielmehr in schneller und umfassender Hilfe des Staates. Die Argumentation geht wie folgt: Mehr als jedes zweite Geschäft in den deutschen Innenstädten sei ein Textil-, Schuh- oder Lederwarengeschäft. In den größeren Städten mit mehr als 500 000 Einwohnern betrage der Anteil der Textil-, Schuh- oder Lederwarengeschäfte sogar 69 Prozent; damit seien fast sieben von zehn innerstädtischen Geschäften Modegeschäfte.

"Jeder Tag, an dem die Läden zusätzlich geschlossen bleiben, verschärft die Probleme massiv"

Wenn nun Zehntausende Modegeschäfte pleitegehen, was der Verband für durchaus möglich hält, löse das eine unheilvolle Kettenreaktion aus, und zwar so: Erst wird der Händler zahlungsunfähig, dann hat der Vermieter ein Finanzierungsproblem, weil er wahrscheinlich keinen adäquaten Nachmieter findet; deswegen wird die Bank nervös, die ihm Geld geliehen hat; womöglich muss ein Pensions- oder Immobilienfonds schließen, in den die Bürger ihr Geld investiert haben. Folglich müsse der Steuerzahler am Ende ein Interesse an der Rettung der Modehäuser haben. So schließe sich der Kreis.

Ob die Rechnung aufgeht? Noch fließt zumindest das Geld nicht so, wie sich die Händler das wünschen. Die Bundesregierung hat zwar Hilfen versprochen, die sind aber bei den meisten noch nicht angekommen. Mit der Kurzarbeit und den KfW-Krediten zeigten sich die Anwesenden zwar zufrieden, bei der Überbrückungshilfe hake es aber. Hinzu komme die fehlende Planungssicherheit. Die Modehändler müssen Ware Monate im Voraus verlässlich bestellen und sitzen derzeit wegen des neuerlichen Lockdowns vor Weihnachten auf einem Berg unverkaufter Artikel, die an Wert verlieren. "Jeder Tag, an dem die Läden zusätzlich geschlossen bleiben, verschärft die Probleme massiv", sagt Jost.

Im Prinzip hätten die Modehändler am liebsten die gleichen großzügigen Soforthilfen wie die Gastronomen. Wobei Thomas Zumnorde-Mertens, der Schuhhändler aus Münster, sich wohl auch mit etwas weniger zufriedengeben würde, wenn die Hilfe denn nur ankommen würde. "Wir sind auch Gastronomen", sagt er. In Erfurt betreibt die Familie ein Vier-Sterne-Hotel mit Restaurant. In der Gastronomie habe man die Kosten sofort auf null zurückfahren können. Eigentlich seien da "zu großzügige Zugeständnisse" gemacht worden.

Genau das will die Politik jetzt wohl vermeiden.

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