Tunesien: Wenn die zweiten Wellen anrollen

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Szenen, die an 2011 erinnern. Die Massenproteste damals stürzten Machthaber Ben Ali, nun gehen wieder wütende Demonstranten auf die Straße, wie hier in einer Vorstadt von Tunis.

(Foto: FETHI BELAID/AFP)

Vor zehn Jahren wurde Langzeit-Diktator Ben Ali verjagt. Nun muss sich die Regierung sorgen, dass sich wieder sozialer Protest ausbreitet - so wie die Corona-Pandemie.

Von Moritz Baumstieger, München

Falls Walid Dhabi schon immer davon geträumt haben sollte, Innenminister Tunesiens zu werden: Die Umstände seines Amtsantritts hat er sich sicherlich anders vorgestellt. Der 45-jährige Verwaltungsfachmann ist einer von zwölf Ministerkandidaten, die Premier Hichem Mechichi in dieser Woche vom Parlament im Rahmen einer größeren Kabinettsumbildung bestätigen lassen wollte. Ob der Premier die nötige Mehrheit im teils chaotischen Parlament bekommen wird, ist noch ungewiss, sicher ist aber, dass die neuen Minister ihre Jobs in einem Moment höchster Anspannung aufnehmen werden. Die entscheidenden Tage der Erhebung gegen den Langzeit-Diktator Ben Ali jähren sich gerade zum zehnten Mal - und die Bilder, die derzeit aus Tunis und den Provinzstädten kommen, ähneln denen von 2011 frappierend.

Die zentrale Avenue Habib Bourgiba in der Hauptstadt etwa: Am Dienstag voller Demonstranten, die ihre Wut über die katastrophalen Lebensverhältnisse herausschreien. Es dauerte nicht lange, dann war der alte Slogan von 2011 zu hören, "ash-shab yurid isqat an-nizam", das Volk will den Sturz des Systems. Die vor Walid Dhabis neuem Arbeitsplatz - dem abgesperrten Innenministerium an der Avenue - stationierten Polizisten antworteten schließlich auf ebenso altbekannte Weise: Tränengas waberte bald durch die Innenstadt.

Die Unzufriedenheit ist wieder im Tageslicht

Mit den Demonstrationen von Dienstag, die sich am Mittwoch teils wiederholten, ist die Unzufriedenheit wieder im Tageslicht und im Zentrum der Macht angekommen. Und das, obwohl die Regierung eine strenge Ausgangssperre verhängt hat - um eine zweite Welle sowohl in Sachen Corona als auch in Sachen Protesten aufzuhalten. Seit vergangener Woche kam es vor allem nachts in den Banlieues von Tunis und in vielen Provinzstädten zu gewaltsamen Zusammenstößen zwischen Jugendlichen und Polizei. Hunderte Demonstranten wurden verhaftet und teils brutal verprügelt, Menschenrechtsorganisationen wie Amnesty International rufen die Sicherheitskräfte zu Zurückhaltung auf.

Die Unruhen nahmen ihren Anfang vergangenen Donnerstag, als es sich zum zehnten Mal jährte, dass Ben Ali fluchtartig das Land verließ, angeblich mit 1,5 Tonnen Gold im Gepäck. Und, auch wenn Tunesien heute von einem demokratischen System geprägt ist: Eine Art Revolutionsdividende konnte bisher keines der acht Kabinette ausschütten, die seit 2011 regierten, auch an der Korruption der Eliten hat sich nach Ansicht vieler wütender Bürger seither nichts geändert. Ihre Lebenssituation ist jedoch deutlich schlechter geworden: Die Arbeitslosigkeit steigt, liegt nun offiziell bei 30 Prozent. Während mehr als 20 Prozent der Bürger unter der Armutsgrenze leben, baut die Regierung Subventionen ab, um die Bedingungen internationaler Kreditgeber zu erfüllen. Gleichzeitig verliert die Landeswährung kontinuierlich an Wert.

"Euer Ärger ist legitim", sagt der Premier

Hichem Mechichi, der seit September 2020 einer bunten Koalition als Premier vorsteht, versuchte in der Nacht zum Mittwoch die Lage zu beruhigen. In einer Fernsehansprache wandte er sich an seine Bürger, "eure Stimme wurde gehört und euer Ärger ist legitim", sagte er in nüchternem Duktus. Seine Worte verschafften nicht wenigen Tunesiern ein Déjà-vu, Erinnerungen an Ben Alis letzte im Staatsfernsehen übertragene Rede wurden geteilt, in welcher der Diktator in vollkommener Verkennung der Entwicklungen versuchte, die Situation noch herumzureißen: "Ana fahimkum", ich verstehe euch, sagte Ben Ali damals - eine geheuchelte Phrase, die zum geflügelten Wort wurde und nun in den sozialen Medien dem aktuellen Premier in vielen Bildmontagen in den Mund gelegt wurde.

Mechichi steht nun nicht nur unter dem Druck der Straße, seit Wochen liefert er sich auch einen Machtkampf mit Staatspräsident Kaïs Saïed. Der spartanisch auftretende Juraprofessor hatte Ende 2019 überraschend die Wahl gewonnen, ohne eine Partei hinter sich zu haben - vor allen junge Wähler konnte er mit seinem Image als Anti-Politiker überzeugen, der über dem Klüngel steht. Und auch wenn sich Saïed nun wieder mit den Demonstranten solidarisierte, konnte er bisher keinen tiefgreifenden Wandel herbeiführen, sondern verhakte sich mit dem von ihm berufenen Premier in Kompetenzstreitigkeiten. Amtsinhaber Mechichi feuerte nun am Samstag ein Dutzend Kabinettsmitglieder, die Saïed nahestanden - weshalb nun ein neuer Innenminister altbekannte Probleme angehen darf.

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