25 Jahre Holocaust-Gedenken im Bundestag:"Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren"

Die Holocaust-Überlebende Charlotte Knobloch warnt im Bundestag vor heutigen Rechtsextremisten und schildert, wie sie als Kind die Verfolgung durch die Nationalsozialisten erlebte. Marina Weisband verdeutlicht die Situation junger Juden in Deutschland.

Von Barbara Galaktionow und Philipp Saul

25 Jahre nach der Einführung des "Tages des Gedenkens an die Opfer des Nationalsozialismus" haben im Bundestag Vertreterinnen zweier Generationen jüdischen Lebens in Deutschland gesprochen. "Ich stehe vor Ihnen als stolze Deutsche", sagte die 88-jährige Charlotte Knobloch, Präsidentin der Israelitischen Kultusgemeinde München und Oberbayern und ehemalige Präsidentin des Zentralrats der Juden, zu Beginn ihrer Rede. Sie verwies auf die engen, ganz selbstverständlichen Bindungen ihrer Vorfahren an deutsche Kultur und Politik im ausgehenden 19. und beginnenden 20. Jahrhundert, die durch den Nationalsozialismus zerstört worden seien.

Charlotte Knobloch beschrieb das Aufkommen der nationalsozialistischen Verfolgung der Juden anhand ihres eigenen Lebensweges. "Als Hitler an die Macht kommt, bin ich drei Monate alt." Sie schilderte, wie sie als Kind unter den zunehmenden Folgen der Verfolgung zu leiden hatte. Wie ihre zum Judentum konvertierte Mutter die Familie verließ, dem Druck der Nazis wich, als Knobloch vier Jahre alt war.

Wie sie das Gatter zum Hof plötzlich verschlossen fand, als sie wie üblich mit anderen Kindern spielen wollte. "Ich rufe, sie drehen sich weg", sagte Knobloch. "Es ist meine erste Begegnung mit dem Anderssein." Wie sie im Alter von neun Jahren allein auf einem Bauernhof bei einer befreundeten Familie versteckt wurde, ihre Großmutter aber deportiert wurde.

Knobloch: "Deutschland ist für Juden wieder eine gute, mit Hoffnungen verbundene Heimat"

Nach dem Krieg sei erst in den Sechziger- und Siebzigerjahren das Bewusstsein im nichtjüdischen Teil Deutschlands für die Verbrechen der Nazizeit gewachsen. Juden hätten wieder Vertrauen finden können. Sie selbst habe sich dafür engagiert, dass aus dem Leben nebeneinander wieder ein Leben miteinander werde. Knobloch sagte angesichts von zugezogenen Juden aus Osteuropa: "Deutschland ist für Juden wieder eine gute, mit Hoffnungen verbundene Heimat."

Doch sie nahm auch Bezug auf negative Entwicklungen: "Wir dürfen stolz sein auf unsere Bundesrepublik", aber man müsse sie wehrhaft verteidigen. Heutzutage sei judenfeindliches Reden wieder salonfähig und bringe Wählerstimmen. Gemeindemitglieder, Freunde und Bekannte dächten laut nach, doch noch auszuwandern. "Der Kampf gegen Antisemitismus ist eine Sisyphusaufgabe." Aber diese Aufgabe sei nötig.

Im Plenum des Bundestags sagte Knobloch zu den Abgeordneten: "Passen Sie auf auf unser Land!" Diese Worte richte sie aber explizit nicht an die ganz rechte Seite des Plenums. Dort sitzen die Abgeordneten der AfD. Sie könne nicht so tun, als kümmerte es sie nicht, "dass Sie hier sitzen". Sie wolle nicht pauschalisieren, aber in Richtung der Rechtsextremen erklärte sie: "Ich sage Ihnen, Sie haben Ihren Kampf vor 76 Jahren verloren."

Weisband: "Ich wollte nie eine Expertin für Antisemitismus sein"

Die Publizistin Marina Weisband machte im Anschluss deutlich, was es bedeutet, als Nachfahrin der Opfer des Nationalsozialismus heute in Deutschland zu leben - wie man, ob gewollt oder nicht, immer auch ein Repräsentant dieser "Schicksalsgemeinschaft" bleibe. Als sie 1993 als Kind mit ihrer Familie aus der Ukraine nach Deutschland gekommen sei, habe sie positive Erfahren gemacht, wollte der Gesellschaft etwas zurückgeben und habe sich daher auch politisch engagiert. "Ich hatte das Gefühl: Diese Gesellschaft geht mich etwas an, ich bin Teil von ihr", sagte die 33-jährige Weisband, die einer breiteren Öffentlichkeit in Deutschland zunächst durch ihr Engagement in der Piratenpartei bekannt geworden war und mittlerweile Mitglied der Grünen ist.

Gleichzeitig sei man der Gesellschaft als Jüdin doch zum Teil fremd geblieben: "Wir Juden waren diese Fabelwesen, über die man schreckliche Dinge gelernt hat im Geschichtsunterricht und die prinzipiell nur schwarz-weiß sind." Sie habe gelernt, dass Teil einer Minderheit zu sein immer bedeute, alle zu repräsentieren, aber auch von allen repräsentiert zu werden.

Jüdin in Deutschland zu sein, bedeute, durch seine bloße Existenz die Erinnerung der Shoah und des modernen Antisemitismus in sich zu tragen, sagt Weisband. "Ich wollte nie eine Expertin für Antisemitismus sein." Trotzdem mache sie Vorträge zum Thema, drehe Aufklärungsvideos oder werde angerufen, wenn etwas passiere.

Weisband betonte, wie schwierig es sei, im Hinblick auf Antisemitismus "Anfängen zu wehren", da dies ein "stetiger Prozess" sei. Er beginne nicht erst da, wo auf eine Synagoge geschossen werde, sondern mit Verschwörungserzählungen und Tiraden über eine angebliche jüdische Opferrolle.

Zudem verwahrte sie sich gegen Forderungen, vermeintliches Schubladendenken aufzugeben, also die Benennung von Interessen bestimmter Gruppen. "Einfach nur Mensch sein, ist Privileg derer, die nichts zu befürchten haben aufgrund ihrer Geburt." Ob es um Antisemitismus oder Rassismus gehe - man müsse benennen, wer allein aufgrund seiner Geburt um seinen Platz in der Gesellschaft kämpfe.

Die Gedenkfeier stand in diesem Jahr im Zeichen des Jubiläumsjahrs "321-2021: 1700 Jahre jüdisches Leben in Deutschland". Aus dem Jahr 321 stammt die älteste bekannte urkundliche Erwähnung jüdischen Lebens auf dem heutigen deutschen Staatsgebiet - ein Edikt des römischen Kaisers Konstantin. "Juden lebten am Rhein, lange bevor es Deutschland gab", sagte Bundestagspräsident Wolfgang Schäuble zu Beginn der Gedenkstunde. Ihre Geschichte sei Teil jedes Kapitels der deutschen Geschichte, der hellen wie der dunklen.

Im Hinblick auf den Attentatsversuch auf die Synagoge in Halle, aber auch Alltagsrassismus auf Schulhöfen und in Internetforen sagte Schäuble, dass es "niederschmetternd" sei, eingestehen zu müssen: "Unsere Erinnerungskultur schützt nicht vor einer dreisten Umdeutung oder sogar Leugnung der Geschichte. Sie schützt auch nicht vor neuen Formen des Rassismus und des Antisemitismus."

Der frühere Bundespräsident Roman Herzog hatte den "Tag des Gedenkens für die Opfer des Nationalsozialismus" 1996 eingeführt und auf den 27. Januar gelegt. An diesem Tag wurde im Jahr 1945 das Konzentrations- und Vernichtungslager Auschwitz durch die Rote Armee befreit. Zum Abschluss der Bundestags-Gedenkstunde wurde die in Israel restaurierte Sulzbacher Thorarolle von 1793 in einer feierlichen Zeremonie fertiggestellt. Die Fertigstellung beinhaltet traditionell das Schreiben der letzten Buchstaben.

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