Kunstgalerien in Paris:Siehst du nicht die Geister

Christian Boltanski

Man spürt den Tod im Werk Boltanskis, ohne dass er benannt wird. Er ist wie ein unsichtbarer Begleiter.

(Foto: Didier Plowy)

Das Werk von Christian Boltanski beschäftigt sich mit Tod, Krankheit, Leid. Jetzt zeigt die Pariser Galerie Marian Goodman die Arbeiten, die während der Zeit des Lockdowns entstanden sind.

Von Johanna Adorján

In Paris, wo dieser Tage Galerien geöffnet haben, wie auch alle Kleiderläden, überhaupt: Geschäfte, während die Museen zu sind (das verstehe, wer kann), ist in den Räumen der Marian-Goodman-Galerie im Marais gerade eine Ausstellung des französischen Künstlers Christian Boltanski zu sehen. Es ist die erste Ausstellung von ihm seit der großen Retrospektive im Centre Pompidou vor einem Jahr, die genau einen Tag vor dem harten französischen Lockdown im März 2020 endete und eine Werkschau war, die einem den Atem verschlagen konnte, weil sie den Zuschauer so schonungslos mit den großen Boltanski-Themen konfrontierte: Zeit, Vergänglichkeit, Tod.

Selbst Besucher, die sich zufällig in die Räume verirrten, etwa weil die zeitgleich nebenan stattfindende Francis-Bacon-Retrospektive überfüllt war, und die noch nie von Christian Boltanski gehört hatten, wussten sofort, ohne dass es irgendeiner Erklärung bedurft hätte, dass hier der Holocaust mit im Raum war. Man spürt ihn im Werk Boltanskis, ohne dass er benannt wird. Er ist wie ein unsichtbarer Begleiter.

Boltanski wurde 1944 in Paris geboren, Sohn einer katholischen Mutter und eines jüdischen Vaters, der von seiner mutigen Frau während der deutschen Besatzung in einem Hohlraum im Fußboden im ersten Stock ihres gemeinsamen Hauses versteckt wurde. So überlebte er. Und so kam Christian Boltanski als jüngster von drei Söhnen zur Welt, wenige Tage nach der Befreiung von Paris, die auch seinem Vater die Freiheit wiederschenkte. Gezeichnet von dieser lebensbedrohlichen Erfahrung blieb die Familie aber für immer, die enger als eng zusammenrückte und nur im Familienverbund je das Haus verließ, was sehr berührend nachzulesen ist in dem Buch "Das Versteck", das Boltanskis Neffe Christophe Boltanski 2015 veröffentlicht hat (auf Deutsch 2017, Hanser-Verlag) und das anhand des Hauses, in dem sich der Vater vor der Ermordung verstecken konnte, die Geschichte dieser Familie erzählt.

Ein Werk, das an die Toten erinnert

Als Künstler arbeitet Boltanski mit so unterschiedlichen Medien wie Fotografie oder Sound-Installation (das Einzige, was er nie macht: malen), doch am berühmtesten ist er wohl für seine Installationen. Oft bestehen sie aus objets trouvés, aus gefundenen Gegenständen, wobei das Entscheidende für Boltanski immer ist, dass jemand sie einmal besessen hat: Wo sind die früheren Besitzer?, fragen seine Werke. Und erinnern so an die Toten.

Auch die aktuelle Ausstellung "Après", die man alleine schon deshalb fast ehrfürchtig betritt, weil man das kann, weil es sie gibt, weil man Kunst hier nicht streamen muss, sondern mit allen Sinnen erleben kann, dreht sich um die Abwesenden. Und wie immer bei Boltanski sind sie auch hier nur angedeutet, machen sich in Auslassungen umso bemerkbarer.

Es sind neue Werke, während des Lockdowns, während der Corona-Pandemie entstanden. Im ersten Raum stehen zehn fahrbare Tische, auf denen sich Laken zu Bergen türmen. "Les Linges" heißt die Arbeit, "Die Bettwäsche". Der Besucher ist mit seinen Assoziationen sich selbst überlassen, die sich, weil das Ganze von Neon-Licht in aseptische Atmosphäre getaucht wird, unweigerlich in Richtung Lazarett oder Leichenschauhaus bewegen. Wenn man still genug steht, bemerkt man irgendwann, dass auf den Wänden in unregelmäßigen Abständen Gesichter von Kindern aufblitzen. Nie lange genug, um sie wirklich zu sehen, aber es macht sich das Gefühl breit, als einzige Person im Raum nicht allein zu sein, sondern von Geistern umstellt.

"Après" ist der Titel - aber "nach" was?

Und was mag wohl der Titel der Ausstellung bedeuten? "Après", der sich auch als blauer Neonschriftzug materialisiert - Danach, aber nach was? Nach dem Leben? Im Untergeschoss empfängt einen eine aus vier Leinwänden bestehende Installation, sie sind in X-Form angeordnet, pro Himmelsrichtung eine. Auf allen sind friedliche Naturszenen zu sehen. Ein in flammendes Pink getauchter Himmel mit Vögeln. Ein verschneiter Wald. Die im Meer untergehende Sonne. Grasende Rehe. Steht man auch hier lange genug still, offenbart sich einem ein ähnliches Schauspiel wie oben. Immer wieder blitzt ein Störbild in die Idylle. Zunächst bemerkt man es kaum, so kurz ist das visuelle Zucken, aber hat das Gehirn es einmal wahrgenommen, ist es nicht mehr nicht zu sehen. Und schließlich erkennt man, dass die Störbilder Schwarz-Weiß-Aufnahmen der Massaker des 20. Jahrhunderts sind. Einmal erkennt man schmerzverzerrte asiatische Gesichter. Ein anderes Mal ausgemergelte Menschenmengen.

Da ist er wieder, der Tod. Und sein Hineinplatzen in die wunderschön dahinplätschernden Naturaufnahmen macht aus diesen ein Sinnbild für die Welt, die sich einfach weiterdreht, wenn jemand gestorben ist, immer weiterdreht, unbeirrt, ungerührt selbst von Massakern, in alle Ewigkeit.

Man folgt der Ausstellung weiter in den nächsten Raum, in dem man zuletzt sein eigenes Gesicht im Spiegel sieht. Und als man die Galerie verlässt, den schlossartigen Innenhof überquert und durch das geschwungene Portal wieder hinaus auf die Straße tritt, deren Name, Rue du Temple, auf die Tempelritter verweist, die hier im Mittelalter lebten, meint man, in all den armen Menschen mit ihren chirurgischen Masken im Gesicht und der Tube Desinfektionsgel in der Tasche, die sich abhetzen, um vor Einsetzen der Ausgangssperre um Punkt 18 Uhr wieder in ihren Wohnungen verschwunden zu sein, die Geister von morgen zu sehen.

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