Fußball-Literatur:Spielen für die bessere Welt

Fußball-Literatur: Hier träumt Günter Netzer im Juli 1971, damals schon mit kontrovers diskutierter Haarpracht, vermutlich von einfacheren Zeiten als Straßenfußballer.

Hier träumt Günter Netzer im Juli 1971, damals schon mit kontrovers diskutierter Haarpracht, vermutlich von einfacheren Zeiten als Straßenfußballer.

(Foto: Imago Sportfotodienst)

Das Fußballerinnerungsbuch "71/72 - die Saison der Träumer" ist eigentlich ein Buch über Rockmusik und Politik - und deshalb so bereichernd.

Von Holger Gertz

Im August 1996 sind, im Abstand von nur fünf Tagen, zwei Personen der deutschen Geschichte und sogar Kulturgeschichte gestorben, Rio Reiser und Reinhard "Stan" Libuda. Der eine Sänger und Texter der Band Ton, Steine, Scherben, der andere Fußballspieler bei Schalke und Dortmund. Reiser - bürgerlich Ralph Möbius - besang mit den Scherben, um es angemessen weit oben einzuhängen, die Utopie einer besseren Welt. Und Libuda spielte für eine bessere Welt, in der einer wie er nichts anderes leisten musste, als Fußballer zu sein - denn nur auf dem Platz, am besten noch in Sichtweite der Zechen, fühlte er sich geschützt und sicher. Sie hatten nichts miteinander zu tun und alles: Rio und Stan waren Künstler, erwachsene Kinder.

Auch ihnen ist dieses Buch gewidmet, auch nach ihnen ist es benannt: "71/72 - Die Saison der Träumer". Wobei in der Saison 71/72 der Träumer Reiser mit seiner Band die ersten LPs rausbrachte und glaubte, eine Heimat im Musikbetrieb und auf den Bühnen noch finden zu können. Während der Träumer Libuda, verstrickt in einen Skandal um Bestechungsgelder, schon spürte, dass er seine Heimat verloren hatte - bald würde er gesperrt sein und ins Exil verbannt, zu Racing Straßburg.

Es war die bewegteste Phase der BRD und zugleich die bewegteste Phase des Fußballs

Das Bereichernde an Fußballbüchern ist immer, wenn sie keine Fußballbücher sind. So wie dieses: Bernd-M. Beyer porträtiert die bewegteste Phase des Landes BRD, die zugleich auch die bewegteste Phase des Fußballs in diesem Land war. Die Geschichte verläuft, wie im Ablaufplan eines Saisonkalenders vorgesehen, vom Spätsommer des einen bis zum Frühsommer des nächsten Jahres, hier also von August 1971 bis Juni 1972. Und tatsächlich ist die parallele Linienführung der gesellschaftlichen und fußballerischen Entwicklungen 71/72 beeindruckend, die Koinzidenz der Ereignisse. Etwas Bedrohliches baute sich auf, entwickelte sich - aber am Ende war es doch das Gute oder positiv Besetzte, das die Oberhand behielt. Bundeskanzler (und Friedensnobelpreisträger) Willy Brandt wurde wegen seiner Ostpolitik angefeindet und auch im Parlament als Verräter beschimpft, die Geschlossenheit der Regierungskoalition bröckelte während der Saison. Bis es schließlich zum Misstrauensvotum kam, an dessen Ende Rainer Barzel (CDU) dann aber doch nicht Kanzler war, Brandt blieb im Amt. Auch die Scherben, wie die Band kurz genannt wurde, saßen zu Hause am Tempelhofer Ufer in Berlin vorm Schwarz-Weiß-Fernseher und schauten die Liveübertragung aus dem Bundestag an diesem 27. April: Das war ein Donnerstag.

Auch "Ton, Steine, Scherben" erlebten am Fernseher den Wundermoment allererster Güte

Nur zwei Tage später, Samstag, den 29. April 1972, hingen die Scherben wieder vor der Glotze, und wieder vollzog sich eine überraschende Wende ins Offene, diesmal auf dem Rasen, sogar dem heiligen von Wembley. Denn der deutsche Fußball, verschattet vom Bestechungsskandal in der Bundesliga unter anderem um Bielefeld, Offenbach und Schalke, erlebte einen Wundermoment allererster Güte, das 3:1 der Nationalmannschaft im EM-Viertelfinale gegen England. Netzer war aus der Tiefe des Raumes gekommen und hatte das Spiel gereinigt, es war jetzt wieder das schöne Spiel.

An genau diesem Samstag passierte noch mehr, da zogen 200 Demonstranten durch Münster, sie hatten Transparente dabei, "Homos raus aus den Löchern!" Ein Spiel mit der Provokation: Die erste Schwulen-Demonstration in Deutschland. Gerade mal zwei Jahre war es her, dass der (inzwischen gern weichgezeichnete) Franz Josef Strauß verfügt hatte: "Lieber ein kalter Krieger als ein warmer Bruder."

Der Autor Bernd-M. Beyer hat 1981 den Verlag "Die Werkstatt" mitbegründet, in dem seitdem anspruchsvolle Fußball-Literatur verlegt wird. Er war Lektor und hat später selbst eine Biografie des ehemaligen Bundestrainers Helmut Schön geschrieben, ausgezeichnet als Fußballbuch des Jahres 2017. Beyer, Stilist und zugleich Kärrner, durchforstet Archive von Zeitungen und Sendern. Er hört und sieht und liest alles nach, tatsächlich alles.

Wie er die Geschichten von Rio Reiser und Stan Libuda parallel erzählt, so greifen die Geschehnisse auf dem Platz und jenseits des Platzes ineinander, in der Saison 71/72. Der Fußball war damals nicht politisch - wer sich solche Verklärungen wünscht, der wird nicht bedient. "Vieles war nur Pose", sagte sogar der zum Rebellen stilisierte Netzer, dabei ging er nur nicht gern zum Friseur. Wobei, die Haare waren damals doch ein Statement, gegen die Reaktionäre, die böse Briefe schrieben ("Wenn wir Netzer sehen, dann schmeckt uns das Abendbrot nicht mehr"); Wutbürgerstyle der frühen Jahre. Altbundestrainer Schön hat die Post gesammelt: "Wenn Sie und Ihre Spieler mehr Zuschauer haben wollen, dann schicken Sie Ihre zugewachsenen Affen zunächst zum Frisör." - "Sehen aus wie montenegrinische Hammeldiebe, deren Häuptling Müller sein könnte." - "Seit Fußballer in Untermenschen-Aufmachung auf dem Spielfeld erscheinen, schaut sich unsere Familie kein Spiel mehr an."

Laut Bundestrainer gab es zum ersten Mal im Mannschaftsbus eine Art politischer Diskussion

Fußballer waren nicht politisch und in der Tiefenströmung doch, durch ihre optische Erscheinung standen sie auf der Seite der Gegenwart, nicht der Vergangenheit. Bundestrainer Helmut Schön, vorm Länderspiel gegen Dänemark, Juni 1971: "Zum ersten Mal in der Geschichte der Nationalmannschaft hatte es im Mannschaftsbus eine Art politischer Diskussion gegeben." Man liest in diesem Buch, dass Spitzentrainer in den Siebzigern das Stilmittel der Ironie noch kannten. Gladbachs Hennes Weisweiler auf die Frage, wie sich die Sexwelle auf die Leistung der Mannschaft auswirkt: "Keine Geschädigten unter meinen Spielern." Man liest vom Schalker Abwehrmann Rolf Rüssmann, der dem Schiedsrichter Eschweiler mitteilte: "Das können Sie doch nicht pfeifen, Sie Drecksau" - und trotz der gebotenen Anrede Sie vier Spiele Sperre bekam. Man liest also, dass die Fußballer die Scherben-Zeile "Kommt zusammen, Leute, lernt euch kennen" ein bisschen mehr verinnerlicht hatten als heute, sie waren noch näher an den einfachen Leuten als die durchtätowierten und komplett entrückten Superstars der Gegenwart.

Man liest schließlich, dass die Gladbacher in der Winterpause 71/72 nach Israel ins Trainingslager geflogen sind, als Zeichen der Aussöhnung zwischen Deutschen und Juden. Man liest das alles zu einer Zeit, in der sich die Großherzoge des FC Bayern darüber aufregen, dass sie am Airport Berlin nicht rechtzeitig losgekommen sind zu einem Kasperturnier in Katar, dem Land der ausgebeuteten Arbeitsmigranten. Dabei ist nicht der Abflugort das Problem dieser Reise, sondern das Ziel.

Man liest also dieses schöne Buch über eine untergegangene Welt und findet die alten Fußballgeschichten auch deshalb so bereichernd und rührend, weil einen der neue Hochglanz-Fußball so selten bereichert und berührt.

Bernd M. Beyer: 71/72. Die Saison der Träumer. Verlag Die Werkstatt, Bielefeld 2021. 352 Seiten, 22 Euro.

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