Schule im Lockdown:"Jedes zweite Kind fängt von vorne an"

NIEUWEGEIN, 08-02-2021 , Dutchnews, The primary schools will be open again on Monday 8 February Maandag 8 februari zijn

Ein Kind auf dem Weg in die Schule.

(Foto: Pro Shots/imago images)

Nach Monaten im Lockdown sind die Lernlücken riesig, sagt Schulleiter Haris Kondza. Nicht nur Schüler würden abgehängt, sondern ganze Familien.

Interview von Paul Munzinger

Dass Grundschulen in NRW am 22. Februar wieder öffnen dürfen, sei eine gute Nachricht, sagt Haris Kondza, Leiter der Regenbogenschule Duisburg-Marxloh. Sie könnten die Kinder so wieder besser erreichen. Der digitale Unterricht funktioniert an seiner Schule kaum, aber das ist längst nicht das einzige Problem.

SZ: Herr Kondza, am 22. Februar können in Nordrhein-Westfalen die Schulen wieder öffnen, auch Ihre. Eine gute Nachricht?

Haris Kondza: Ja, das ist eine gute Nachricht. Weil wir die Kinder so besser erreichen können. Selbstverständlich wissen wir nicht, wie das Infektionsgeschehen sich darstellen wird, aber nach so einer langen Zeit des Lockdowns und des Unterrichtens über Distanz freuen wir uns auf die Kinder. Wenn alle gesund bleiben, ist das die beste Lösung. Zum Glück haben wir jetzt noch eine Woche Zeit, um alles vorzubereiten. Wir machen Wechselunterricht mit mehreren Schichten am Tag, morgens die eine Gruppe, mittags die zweite. In großen Klassen machen wir eventuell sogar drei Gruppen. Jedes Kind soll jeden Tag in die Schule kommen.

Seit Dezember ist Ihre Schule geschlossen. Wie geht es den Kindern damit?

Was ihre Bildung betrifft, geht es den Kindern nicht gut. Das Lernen zu Hause gestaltet sich sehr schwierig, nicht nur an unserer Schule. Die digitale Ausstattung ist besser als noch vor einem Jahr, viele Familien haben Endgeräte von der Stadt bekommen. Aber viele andere haben weder Festnetz noch Wlan. Die Kinder müssen über mobile Hotspots ins Internet gehen oder sie benutzen die Handys ihrer Eltern. Andererseits freuen sich viele Familien darüber, dass die Kinder zu Hause bleiben können. Sie machen sich große Sorgen, dass ihre Kinder krank werden.

Die Eltern freuen sich?

Wir haben an der Schule 380 Kinder, 250 von ihnen sind aus Familien, die erst vor kurzer Zeit zugezogen oder nach Deutschland geflohen sind, aus Rumänien, Bulgarien oder Syrien. Sie sprechen sehr schlecht Deutsch, schauen kein deutsches Fernsehen, lesen keine deutsche Presse. Wenn diese Menschen keine Maske tragen, dann liegt es daran, dass es ihnen niemand gesagt hat. Welche Regeln gerade in Duisburg-Marxloh gelten, erfahren sie wenn überhaupt von uns - oder eben gar nicht. Sie leben in einem Informationsvakuum und sind sehr verunsichert. Ohne Schule bleiben die Familien komplett in ihrer... ich will nicht Parallelgesellschaft sagen, weil das Wort so negativ belegt ist. Sie bleiben in ihrer eigenen Lebenswirklichkeit.

Die geschlossenen Schulen hängen also nicht nur die Kinder ab?

Ohne uns zu hochhängen zu wollen: Wir sind ein Motor der Integration. Aber dieser Motor stottert gerade nicht mal, er ist ausgegangen. Normalerweise helfen wir nicht nur den Kindern, in Deutschland anzukommen, sondern den ganzen Familien. Wir bieten Schuldnerberatung an, wir helfen Briefe zu übersetzen, wir erklären, was Wohngeld ist und wo man auch ohne Krankenversicherung ärztliche Hilfe findet. Mit der Schule haben die Leute viel weniger Berührungsängste als mit Behörden, wir sind nicht so negativ belegt wie zum Beispiel das Jobcenter. Das alles ist momentan abgebrochen. Und es wird lange dauern, das Vertrauensverhältnis wiederherzustellen.

Haben Sie überhaupt Kontakt zu diesen Familien?

Wie gesagt: Digitales Unterrichten ist bei uns kaum möglich. Wir bemühen uns deshalb, analog Kontakt zu halten. Wir laden die Kinder regelmäßig in die Schule ein. Montags holen sie neue Arbeitsmaterialien und liefern die alten ab, donnerstags ist immer Sprechtag. Einmal die Woche gehen wir bei allen Kindern vorbei, die wir nicht erreichen können, bei den Hausbesuchen sind auch Dolmetscher dabei. Und wenn wir dann sehen, dass die Familie mit acht Kindern in einer Zweizimmerwohnung lebt, ohne Kinderzimmer, ohne Schreibtisch - dann sagen wir: Bringen Sie Ihr Kind in die Notbetreuung. Aber manche wollen das nicht. Sie haben Angst, dass das Kind sich ansteckt.

Wie viele kommen denn in die Notbetreuung?

Zunächst wurden gar keine Kinder angemeldet. Also haben wir aktiv nachgefragt. In der Spitze waren es dann 32 Kinder. Von denen, die aus unserer Sicht unbedingt in der Schule lernen sollten, ist das etwa die Hälfte. Ungefähr 20 Familien erreichen wir gar nicht. Wir wissen gar nicht, ob sie aktuell in Deutschland sind.

20 Familien, das sind ...

... fünf Prozent der Schüler. Das ist so. Mehr als die Hälfte der Familien in Duisburg-Marxloh ist nicht fest hier verankert, sie fahren oft nach Bulgarien oder Rumänien. Das ist anders als in anderen Schulen.

Über die Frage, wie groß die Corona-Lücken bei Kindern sind und wie sie wieder gefüllt werden können, wird intensiv diskutiert. Was ist Ihre Einschätzung?

Für unsere ersten und zweiten Klasse ist die Lage fast schon fatal. Die Lücken sind riesig. Wenn die Kinder bei uns in die Schule kommen, können sie in der Regel keinen Buchstaben schreiben. Sie sind schwer in der Lage, überhaupt zu zeichnen, weil sie noch nie einen Stift in der Hand gehalten haben. Normalerweise können wir das einigermaßen auffangen, nicht in vier Jahren Grundschule, aber mit ein, zwei Wiederholungen in fünf oder sechs. Wir haben Unterstützung durch interkulturelle Berater, zusätzlichen Deutschunterricht und Lehrerinnen, die mit Herzblut dabei sind. Aber zurzeit können wir mit den Kindern höchstens ein bisschen ausmalen üben, die Buchstaben festigen, die sie schon kennen, ein paar deutsche Begriffe wiederholen. Das reicht nicht. Jedes zweite Kind fängt von vorne an, wenn die Schule wieder beginnt, gerade in der ersten Klasse.

Das heißt also, das Schuljahr wiederholen?

Das werden wir wohl bei der Hälfte der Kinder empfehlen. Aber zumindest in der ersten Klasse können wir das nicht entscheiden, das können nur die Eltern.

Lässt sich wieder aufholen, was die Kinder zurzeit versäumen?

Noch ist nichts verloren. Aber wir brauchen ein bis zwei Jahre Zeit, um das aufzuholen. Und wir brauchen zusätzliche Räume und zusätzliche Menschen. Um zu lernen, was jetzt nicht gelernt werden konnte, aber auch weil wir mehr Schüler haben werden, wenn viele Kinder die Klasse wiederholen. Von unten kommen ja im nächsten Schuljahr wieder neue Kinder nach, die müssen wir natürlich aufnehmen.

Mehr Räume, mehr Lehrer: Wie groß ist Ihre Hoffnung, dass Sie das bekommen werden?

Nicht groß. Es ist guter Wille da, uns zu unterstützen, das will ich ausdrücklich betonen. Aber auch die Schulaufsicht und das Ministerium können kurzfristig nichts daran ändern, dass Lehrer fehlen. Wir haben Seiteneinsteiger eingestellt und Lehrer, die schon in Rente waren. Aber diese Leute können nur ein funktionierendes System unterstützen, sie können nicht Kern dieses Systems sein. Doch dahin verschiebt es sich gerade. Ausgebildete Lehrerinnen und Lehrer bewerben sich seit Jahren nicht mehr an den Schulen in Marxloh.

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