Justiz:Wenn ein Freispruch nicht das letzte Wort ist

DNA-Analyse in einem Labor des Landeskriminalamts Nordrhein-Westfalen

Die geplante Reform soll auf die technisch verfeinerten DNA-Analysen reagieren, die neue Beweise hervorbringen können - aber nicht nur.

(Foto: Rolf Vennenbernd/dpa)

Die große Koalition plant, die Wiederaufnahme abgeschlossener Prozesse zu erleichtern, wenn es um Mord und Völkermord geht. Doch was ist bei Vergewaltigung? Bei Missbrauch? Über ein Vorhaben, das tief ins allgemeine Rechtsempfinden eingreift.

Von Wolfgang Janisch, Karlsruhe

Die Legislaturperiode neigt sich dem Ende zu, da ist es Zeit, ein paar Versprechen einzulösen. Eines lautet: "Wir erweitern die Wiederaufnahmemöglichkeiten zuungunsten der oder des freigesprochenen Angeklagten in Bezug auf die nicht verjährbaren Straftaten." So steht es im Koalitionsvertrag. Übersetzt bedeutet es so etwas wie: Mörder sollen sich nicht mehr sicher sein dürfen, nicht doch noch ins Gefängnis zu kommen. Nicht einmal nach einem Freispruch.

Trotz der klaren Zusage tat sich das Bundesjustizministerium schwer, daraus einen Gesetzentwurf zu machen, und ließ das Projekt dann sanft entschlummern - wegen gravierender verfassungsrechtlicher Bedenken. Deshalb haben sich nun die Bundestagsabgeordneten Jan-Marco Luczak (CDU) und Johannes Fechner (SPD) der Sache angenommen. Sie arbeiten derzeit an einem eigenen Gesetzentwurf der Koalitionsfraktionen. Im Grundsatz ist man sich einig, und inzwischen zeichnen sich die Konturen ab.

Klar ist, dass nach einem Freispruch eine Neuauflage des Prozesses nur bei Verbrechen wie Mord und Völkermord möglich sein soll - weil diese Taten nicht verjähren. Nur bei derart "exzeptionellem Unrecht" sei es zulässig, die Rechtskraft eines Freispruchs zu durchbrechen, erläutert Luczak. Voraussetzung soll zudem eine hohe Wahrscheinlichkeit sein, dass der Verdächtige wirklich verurteilt wird. An den Details wird noch gefeilt. Diskutiert wird aber eine Formulierung, wonach für eine Wiederaufnahme neue Tatsachen oder Beweismittel beigebracht werden müssen, die allein oder in Verbindung mit früher erhobenen Beweisen "dringende Gründe" für eine Verurteilung bilden. Einen zweiten Freispruch will man nicht riskieren, soll das heißen.

Die Reformer denken an quälend ungelöste Rechtsfälle

Natürlich denken die Rechtspolitiker dabei an die Chancen, die technisch verfeinerte DNA-Analysen bieten. Anders als bei einem früheren Reformversuch von 2007 - damals war es eine Bundesratsinitiative - wollen sie eine Wiederaufnahme aber nicht auf neue wissenschaftliche Methoden beschränken. Auch die Tatwaffe, die beim Entrümpeln eines Dachbodens gefunden wird, auch die heiße Spur in einer brisanten Mail, die plötzlich aufgetaucht ist, könnte einen Freispruch zum Kippen bringen. "Die Hürden wollen wir aber sehr hoch setzen", sagt Fechner. Das werde nicht viele Fälle betreffen.

Vor allem denken die Reformer aber an quälend ungelöste Rechtsfälle, die wie offene Wunden in den Biografien der Angehörigen von Verbrechensopfern schwären. Hans von Möhlmann hatte vor bald sechs Jahren im Netz Zehntausende Unterstützer für eine Petition gefunden, in der er "Gerechtigkeit für meine ermordete Tochter Frederike" forderte. Ihre Leiche war im November 1981 in einem Wald in Niedersachsen gefunden worden, grauenvoll zugerichtet. Ein Verdächtiger wurde freigesprochen, aber 30 Jahre später ließen sich Sekretspuren, die am Opfer gefunden worden waren, doch noch analysieren. Es war die DNA ebenjenes Verdächtigen, doch der Weg zu einem neuen Prozess war versperrt. Das berühre das Rechtsempfinden Tausender Menschen, sagt Luczak.

Bisher freilich sind alle Reformversuche gescheitert, auch die Initiative von 2007 - wegen verfassungsrechtlicher Bedenken, wie sie nun das Bundesjustizministerium hegt. Denn das Grundgesetz verbietet die neuerliche Verfolgung eines Verdächtigen, wenn ein Gericht sein Urteil gefällt hat. Davon gibt es nur eng begrenzte Ausnahmen, etwa, wenn der Freigesprochene ein Geständnis ablegt. Ansonsten gilt: Der Staat hat nur einen Versuch, und der muss sitzen.

Schon das römische Recht verbot die Doppelbestrafung

Woher aber kommt dieser hohe Rang der "Rechtssicherheit"? Warum soll sie unerschütterlich sein, wenn Betroffene sie als unerträglich empfinden? Die Suche nach der Antwort führt tief in die Rechtsgeschichte. "Ne bis in idem crimen iudicetur", so hieß es schon im römischen Recht: Man darf nicht zwei Mal für dasselbe Verbrechen bestraft werden. Von dort zieht sich das Verbot der Doppelbestrafung durch die Jahrhunderte. Im Sachsenspiegel stand es, im Katalog der Grundfreiheiten nach der Französischen Revolution, im fünften Zusatz zur amerikanischen Verfassung. Im Deutschen Reich des 19. Jahrhunderts wurde es ganz selbstverständlich als ungeschriebenes Prinzip liberaler Rechtsstaatlichkeit akzeptiert. Und seit 1949 steht in Artikel 103 Absatz 3 Grundgesetz: "Niemand darf wegen derselben Tat auf Grund der allgemeinen Strafgesetze mehrmals bestraft werden." Und stets war unbestritten: Damit ist auch das Verbot der wiederholten Verfolgung gemeint.

Gerade die Aufnahme ins Grundgesetz zeigt, was auf dem Spiel steht. Sie war eine Reaktion auf die Willkür der Nazizeit, in der sich jede Rechtssicherheit auflöste. "Alles, was zu Rechtssicherheit und -bestimmtheit führte, wurde von der politischen Macht nur noch als lästiger Zwang empfunden, demgemäß aber so weit als nur möglich abgebaut" - ein Satz, mit dem der Bundesgerichtshof 1953 die Bedeutung des Prinzips unterstrich.

Die Risiken einer Reform sind absehbar

Ob gleichwohl eine Öffnung des historisch so tief verwurzelten Verbots möglich ist, im Sinne einer "materiellen Gerechtigkeit", die den wahren Täter hinter Gitter bringen will - das ist unter Juristen hochumstritten. Wie das Bundesverfassungsgericht darüber denkt, lässt sich nicht sagen. "Grenzkorrekturen" des Artikels 103 seien nicht ausgeschlossen, schrieb es vor 40 Jahren, aber sein "Kern" müsse erhalten bleiben.

Absehbar sind hingegen praktische Risiken der Reform. Dass sich von einer DNA-Analyse eine gerade Linie zur Verurteilung ziehen lässt, ist keineswegs zwingend. "DNA-Ergebnisse können eindeutig erscheinen, ihre Verarbeitung im Strafprozess ist dies aber beileibe nicht immer", schrieb kürzlich der Rechtsprofessor Helmut Aust in einer Fachzeitschrift. Soll heißen: Auch Unschuldige, die zu Recht freigesprochen wurden, könnten in einen neuen, quälenden Prozess hineingezogen werden.

Und schließlich: die Eigendynamik der Rechtspolitik. Wenn es "unerträglich" sein soll, einen Mörder trotz klarer Beweise nicht mehr verurteilen zu können - was ist dann mit dem freigesprochenen Vergewaltiger? Mit dem Missbrauchstäter? Dem Totschläger? Trägt die Reform nicht den Kern ihrer Ausweitung in sich? Fechner hält das für ausgeschlossen - es bleibe bei unverjährbaren Taten. Luczak formuliert da vorsichtiger: "Andere Debatten führen wir aktuell nicht."

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