Es war der 24. Dezember 1968, als William Anders "Oh mein Gott" durch die Apollo-8-Kapsel rief und nach seiner Hasselblad 500 griff. "Seht euch dieses Bild an. Da geht die Erde auf." Der US-Astronaut legte einen Farbfilm ein und schuf ein Bild, das als eines der einflussreichsten der Geschichte und manchen als ein Geburtsmoment der Umweltbewegung gilt. Anders fotografierte, wie der Planet der Menschen über dem öden Horizont des Mondes aufging, den er in seinem Raumschiff umkreiste. Eine ferne, blaue Halbkugel, verloren und verletzlich im kalten, schwarzen Nichts des Kosmos.
Auch mehr als 50 Jahre später weckt das Foto mit der Seriennummer AS8-14-2383HR ein warm glimmendes Gefühl tiefer Ergriffenheit und lässt das individuelle Menschsein zu einer unbedeutenden Kleinigkeit schrumpfen. Wer Ehrfurcht empfindet, wird aus seinem Bezugsrahmen geworfen, empfindet Demut im Angesicht von etwas unbegreiflich Großem. "Man blickt neu auf die Welt", wie die Psychologen Daniel Stancato und Dacher Keltner in einer Studie im Fachblatt Emotion schreiben. Darin demonstrieren die Forscher, dass das Gefühl der Ehrfurcht dazu verleitet, Gewissheiten aufzuweichen, Gemeinschaft zu stiften und in politischen Gegnern den Menschen zu sehen.
"Ehrfurcht zu empfinden", sagen die Psychologen von der University of California in Berkeley, "öffnet das Denken, statt es zu verschließen." Diese Form des erschütterten Staunens, so haben zahlreiche Untersuchungen gezeigt, beeinflusst menschliche Kognition: Sie weckt Demut, mindert die Bedeutung des Selbst und verknüpft einen mit anderen Menschen. Es verbindet, gemeinsam vor einer Kathedrale oder einem Bergmassiv zu stehen und sich unbedeutend zu fühlen. Selbst wenn über wesentliche, identitätsstiftende Themen ansonsten aggressive Uneinigkeit herrscht: In einem Dom schreit sich niemand an.
Das Foto einer Spritze weckt andere Gefühle als eines der über dem Mond aufgehenden Erde
Gemeinsame Ergriffenheit nimmt dem Zorn den Raum. Dafür haben Stancato und Keltner Belege in Experimenten mit mehreren Hundert Teilnehmern gesammelt. Unter anderem weckten sie Ehrfurcht in den Probanden, indem sie Naturdokus vorführten. Anschließend baten sie um Bewertung umstrittener Themen wie Rassismus, Polizeigewalt oder der Todesstrafe. Natürlich sind die Ergebnisse mit den üblichen Einschränkungen versehen: Es handelt sich zunächst nur um eine Korrelation, und selbstverständlich fallen sich Linke und Rechte nicht einträchtig in die Arme, nur weil sie zusammen ein bisschen "Planet Earth" auf Netflix geschaut haben.
Jedoch werfen die Ergebnisse ein Schlaglicht darauf, dass es uns derzeit an Momenten kollektiver Ehrfurcht mangelt. Stattdessen lassen einen die aktuellen Schlammschlachten vor Abscheu staunen: Rechte wie Linke vergiften die Debatte und bezichtigen einander voll Bigotterie, die Debatte zu vergiften. Unbarmherzig dreschen sie im Namen ihrer Version des Guten aufeinander ein. Was könnte dagegen gemeinsame Ehrfurcht wecken? Die Errungenschaften der Gegenwart böten zwar Anlass dafür, die unfassbar schnelle, kollektive Entwicklung der Corona-Impfstoffe zum Beispiel. Doch sie liefern keine wirksamen Bilder. Das Foto einer Spritze weckt andere Gefühle als eines der über dem Mond aufgehenden Erde.