Natürliche Verbündete der Demokratie waren die Philosophen im Europa des 20. Jahrhunderts nicht. Jan Sokol wusste das. Er wusste auch um die Nicht-Selbstverständlichkeit der Demokratie und der Menschenrechte. Er wurde 1936 in Prag geboren, entstammte einer gebildeten, katholischen Familie. Aufgewachsen ist er in der realsozialistischen Tschechoslowakei. Als er an der Universität Philosophie zu studieren begann, war er bereits 54 Jahre alt.
Zuvor aber hatte Sokol die inoffizielle Universität besucht, die ihre Hörsäle und Seminarräume in Privatwohnungen hatte. In dieser Universität lehrte einer der großen mitteleuropäischen Philosophen des 20. Jahrhunderts, der Phänomenologe Jan Patočka, der 1968 an die Karls-Universität berufen worden war. Er hatte sein Amt nach der Niederschlagung des Prager Frühlings rasch wieder verloren. Patočka war mit Václav Havel und Jiří Hájek Sprecher der Charta 77. Jan Sokol, gelernter Goldschmied, nach einem Abendstudium auch Mathematiker und Softwareentwickler, gehörte zu den Erstunterzeichnern.
Sokol war nicht Autor dickleibiger Standardwerke, sondern eingreifender Intellektueller
In seinem Aufsatzband "Philosophie als Verpflichtung" (2014) ist ein Rückblick auf Jan Patočkas Rolle in der Charta 77 enthalten. Es war ein Rückblick auf seinen Schwiegervater, der 1977, drangsaliert von der Staatssicherheit, gestorben war. Der Untertitel seines Aufsatzbandes - "Über Ethik, Menschenrechte, Bildung und Politik" - kennzeichnet das Interessenspektrum Sokols. Er kannte die deutsche Philosophie von Nietzsche bis Heidegger, bei dem Patočka studiert hatte. Er war nicht der Autor dickleibiger Standardwerke, sondern ein eingreifender Intellektueller.
Im letzten tschechoslowakischen Parlament vor der Trennung Tschechiens und der Slowakei 1992 war er der Fraktionsführer des "revolutionären Bürgerforums". 1997/98 wurde er Bildungsminister, zwei Jahre zuvor war er an der Gründung des "Forums Versöhnung" beteiligt gewesen. Das waren und blieben die beiden Seiten seiner intellektuellen Existenz, die Fortführung der zivilgesellschaftlichen Impulse von vor 1989/90 und die beharrliche Arbeit an einer Aussöhnung zwischen Tschechien und den vertriebenen Sudetendeutschen sowie an einer Aufarbeitung der "Diskriminierung der hier verbliebenen Deutschen nach dem Krieg". Diese zweite Seite spielte eine Schlüsselrolle am entscheidenden Punkt der politischen Biografie Jan Sokols. Im Februar 2003 hatte ihn der damalige sozialdemokratische Ministerpräsident Vladimír Špidla als parteilosen Kandidaten für das Amt des Staatsoberhaupts vorgeschlagen. Gewählt wurde aber Ende Februar 2003 Václav Klaus, der das Amt dann zehn Jahre lang innehatte.
Abgeordnete der Sozialdemokratie hatten dem eigenen Kandidaten Sokol ihre Zustimmung verweigert. Im Vorfeld war ihm immer wieder vorgeworfen worden, er stehe für eine allzu versöhnliche Haltung gegenüber den Sudetendeutschen. Jan Sokol, Professor für Humanwissenschaften an der Karls-Universität, wäre der Nachfolger von Václav Havel gewesen und hätte die von der Charta 77 ausgehende Kontinuitätslinie fortführen können. Schade, dass ihm das nicht vergönnt war. Sokol ist am Dienstag im Alter von 84 Jahren gestorben.