Raser-Prozess in München:"Sie werden für immer gezeichnet sein"

Raser-Prozess in München: Hier, in der Fürstenriederstraße, ist der 14-jährige Max gestorben. Wenn Eltern an den Unfallort kommen, wo ihr Kind stirbt, entstehe "eine Situation, die zu groß ist, als dass wir Menschen das in dem Augenblick fassen können", sagt Therapeut David Althaus.

Hier, in der Fürstenriederstraße, ist der 14-jährige Max gestorben. Wenn Eltern an den Unfallort kommen, wo ihr Kind stirbt, entstehe "eine Situation, die zu groß ist, als dass wir Menschen das in dem Augenblick fassen können", sagt Therapeut David Althaus.

(Foto: Stephan Rumpf)

Die Eltern des 14-Jährigen, der nachts in der Fürstenrieder Straße von einem Raser getötet wurde, sind zu traumatisiert für eine Aussage vor Gericht. Die übernimmt der Therapeut der Familie.

Von Susi Wimmer

Max war ein großer, schlaksiger Kerl, intelligent, freundlich, beliebt, einer, "der Hunger auf Leben hatte". Am Abend des 15. November 2019 wollte er zu einer Party. Feiern, Leute treffen. Auf dem Heimweg stieg er mit drei Freunden an der Fürstenrieder Straße aus dem Bus, wollte die Fahrbahn queren, als ein Geisterfahrer ihn mit 125 Kilometern pro Stunde mit seinem Wagen erfasste. Max war sofort tot. Er starb im Alter von 14 Jahren.

Nächste Woche soll der Prozess gegen den Todesfahrer Victor B. zu Ende gehen. An dreizehn Prozesstagen ging es um Fragen wie die, was Victor B. für ein Mensch sei. Wie viele Drogen er im Blut hatte. Wie es zu diesem Unfall kommen konnte. Ob es Mord war. Die Eltern von Max können und wollen dem Mann nicht in die Augen sehen, der ihren Sohn getötet hat. Sie sind "extremst verwundet, ihr früheres Leben ist pulverisiert", sagt David Althaus, der Therapeut, der die Familie begleitet.

Für Victor B. ging es nur darum, vor der Polizei zu flüchten. Der verurteilte Drogendealer war auf Bewährung in Freiheit, hatte aber wieder einmal gekokst und gegen seine Auflagen verstoßen. Für ihn ging es um ein paar Monate Gefängnis. Für die Eltern sowie die jüngere Schwester von Max geht es darum, wie sie weiter existieren können. "Sie werden für immer gezeichnet sein", sagt Althaus. Um den Eltern eine Aussage vor der ersten Strafkammer am Landgericht München I zu ersparen und trotzdem ein Bild von Max und seiner Familie zu bekommen, hatte die Vorsitzende Richterin Elisabeth Ehrl den Therapeuten der Familie geladen. Althaus betreut die Angehörigen seit Anfang 2020, etwa zwei Monate nach dem Tod von Max, in einer Phase, "in der allmählich realisiert wird, was passiert ist. Wo die Emotionen bei der Familie ankommen".

Die Familie muss lernen, ohne Max weiterzuleben

Wenn Eltern an einen Unfallort kommen, wo ihr Kind stirbt, entstehe ein Trauma, "eine Situation, die zu groß ist, als dass wir Menschen das in dem Augenblick fassen können". Für die Eltern von Max waren das Blaulicht, Rettungskräfte, die Fahrt ins Klinikum Großhadern und dann der Satz: "Wir konnten ihren Sohn nicht mehr retten." Das Trauma zu behandeln, sei vergleichsweise einfach. Was dann folge, sei der viel größere Teil: Die Familie müsse über die Jahre lernen, ohne Max weiterzuleben. Und das sei "eine wahnsinnig schwierige Aufgabe". Unsere Kinder, erklärt Althaus, seien ein Teil unserer Identität. "Wenn unser Kind stirbt, ist es, wie wenn ein Teil von uns stirbt."

David Althaus behandelt psychische Erkrankungen und Traumafolgen. Für psychische Erkrankungen, sagt er, gebe es Techniken, damit umzugehen. "Für den Verlust eines Kindes gibt es das nicht. Es wird nicht mehr lebendig." Auch über ein Jahr nach dem Unfall spüre man immer noch die Erschütterung bei den Eltern. Und eine besondere Bitterkeit über "diese unglaubliche Sinnlosigkeit" von Max' Tod. Zwar sei es den Eltern gelungen, wieder ihre Arbeit aufzunehmen, und die kleine Schwester sei auch wieder in der Schule, aber das Funktionieren sei nur ein oberflächlicher Schein. "Die Begleitung der Familie ist ein Jahr alt, und ich weiß nicht, wann sie aufhören wird", sagt Therapeut Althaus.

Die kleine Schwester hat der Verlust mit voller Wucht getroffen

Nach seiner Erfahrung empfinden die meisten Eltern das erste Jahr nach dem Verlust so, dass sie nur irgendwie überlebt hätten. Der Mensch sei auf Problemlösung angelegt, und das Gehirn sei selbst nach einem Jahr noch mit der Frage beschäftigt: "Wie kann unser Kind wieder zu uns zurückkommen." Für viele sei das zweite Jahr schlimmer, weil da die "Unumkehrbarkeit untermauert" werde. Wie beliebt Max war, zeigte sich nicht zuletzt an seinem ersten Todestag. Trotz Pandemie kamen Dutzende Freunde am Unfallort und am Grab zusammen, die Schule trauerte, die Freunde von Max besuchten den Vater.

Die kleine Schwester von Max habe Unterstützung durch die Schulpsychologin. Die Zehnjährige habe der Verlust "mit voller Wucht" getroffen. Sie habe nicht nur den großen, bewunderten Bruder verloren, sondern auch die Normalität einer intakten Familie. "Die Eltern", sagt Althaus, "sind stark. Aber wenn so etwas passiert, erleben wir unsere Eltern in einer Verfassung, was für sich genommen auch schon wieder traumatisierend ist."

Teil seiner Arbeit sei es auch, den Eltern immer wieder zu vergegenwärtigen: "Die Lebenden haben Vorrang." Das verstorbene Kind nehme, gerade weil es nicht mehr da ist, unheimlich viel Raum ein, oft mehr als vorher. Aber gerade die kleine Schwester von Max brauche nun besonders die Zuwendung und Kraft ihrer Eltern. Sie habe ihm, dem Psychologen, eigens eine Schweigepflichtsentbindung ausgehändigt, damit auch ihre Position vor Gericht gehört werde. Die Familie, sagt David Althaus, sei enorm tapfer. "Sie machen es so gut wie möglich, aber der Weg, der noch vor ihnen liegt, ist lang."

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