Berlin:Die wahren Kinder vom Bahnhof Zoo

NRW-Untersuchungsausschuss zu Kindesmissbrauch

Fälle von massenhaftem Missbrauch wie jüngst auf dem Campingplatz von Lügde sind keine neuen Phänomene.

(Foto: Friso Gentsch/dpa)

"Kevin" war sechs, als sich der erste Mann an ihn heranmachte. Mit 14 endete er auf dem Berliner Jungenstrich. Welche pädosexuellen Netzwerke hinter dem Missbrauch standen, macht eine Studie deutlich.

Von Edeltraud Rattenhuber, München

"Kevin" kann einiges erzählen über die "Kinder vom Bahnhof Zoo". Aber nicht über die neue Serie, die derzeit auf dem Bezahlsender Amazon Prime vermarktet wird. Nein. "Kevin" weiß, wie es wirklich war, am Berliner Kinderstrich Geld zu verdienen, Freiern zugeführt zu werden und sich mit Drogen zu betäuben. Und er weiß, dass dahinter Netzwerke standen von Pädosexuellen, die man wohl besser Pädokriminelle nennen sollte. Netzwerke, denen die Unabhängige Kommission zur Aufarbeitung sexuellen Missbrauchs in einer Studie nachgegangen ist, welche am Mittwoch in Berlin vorgestellt wurde.

Die Untersuchung gibt laut Sven Reiß, der die Studie mit Iris Hax erstellt hat, einen tiefen Einblick in die Lebenswelt dieser Gruppierungen, die sich zum Teil als Reformbewegung gerierten. Zum Beispiel veröffentlichten sie Zeitschriften, in denen offen Kinder zum Sex angeboten wurden. Die Forscher fanden auch Fotografien und Missbrauchsdarstellungen in aller Deutlichkeit. Zeugnisse, die von strafrechtlicher Relevanz waren, wurden der Polizei übergeben.

Die Behörden schauten oft weg

Auf insgesamt 120 Seiten macht die Studie deutlich, wie Gruppierungen von Männern, die Jungen sexuell ausbeuteten, sich von den Siebzigern bis in die Nullerjahre soziale Bewegungen zunutze machten, um ihre Ziel durchzusetzen. Pädosexuelle brachten sich als "Minderheit in der Minderheit" vor allem in der Schwulenbewegung ein, um ihre Ziele zu befördern. Und Wissenschaftler verschiedener Fachrichtungen unterstützten ihre Positionen. Offen konnten sich die pädosexuellen Netzwerke so für die Straffreiheit sexueller Handlungen von Erwachsenen mit Kindern und Jugendlichen einsetzen. Kritik kam laut Studie aus der Frauenbewegung, doch fanden die Pädosexuellen zeitweilig Unterstützung bei den Grünen. Behörden schauten weg, die eigentlichen Opfer wurden kriminalisiert.

"Kevin" ist eines der Kinder, die unter den Taten dieser Männer leiden mussten. "Kevins" Geschichte und dem eines anderen Betroffenen ist eine Triggerwarnung vorangestellt - denn tatsächlich erhalten die Berichte verstörende, drastische Schilderungen. So erzählt er, wie der Hausmeister seiner Schule im damaligen Ost-Berlin sich ihm freundschaftlich annäherte, nur um den Jungen letztlich in einem Pädosexuellen-Netzwerk herumzureichen. "Kevin" war sechs, als es begann. Der Mann nahm ihn zum Nacktbaden mit, machte Nacktaufnahmen von ihm. "Das hat mir das Gefühl gegeben: Ich bin was Besonderes." Dann zwang er ihm den ersten Oralverkehr auf. Und nach und nach wurden ihm Männer vorgestellt aus West-Berlin, die ihn ebenfalls missbrauchten. Mit 14 Jahren brachte ihn der Mann zum Bahnhof Zoo zum Anschaffen, "da kannst Du Geld verdienen", sagte er noch.

Erschreckend ist, mit welcher Offenheit und Selbstverständlichkeit dies geschah. Wie Polizisten den Kindern nicht halfen. Wie die Mutter nichts vom Leid ihres Jungen wissen wollte. Wie der Hausmeister zwar aufflog, aber nur versetzt wurde - ins Schwimmbad.

Es gehe hier nur um die Spitze des Eisbergs

Ingo Fock, Gründer des Vereins "gegen missbrauch" und selbst Betroffener, sagt denn auch, wichtig sei, was in der Studie nicht stehe. "Die Vorstudie kratzt nur an der Spitze eines Eisbergs", so Fock, aber sie sei ein Zeichen, dass etwas aufgearbeitet werde, immerhin. Er fragte unter anderem nach der Verantwortung der Senatsverwaltung in Berlin. Im 70er-Jahre-Berlin habe es ein gesellschaftliches Klima gegeben, das "freie Liebe für freie Menschen" propagierte, und es sei normal gewesen, dass Kinder nackt in Kreuzberg herumgelaufen seien. Die "kindlichen Opfer" der Missbrauchstäter seien in diesem Klima nicht gesehen worden.

Einen Schwerpunkt der Studie bilden die "Berliner Kinderrechtegruppen" und -projekte sowie die linksautonome Szene. Die Kinderrechtegruppen, die in Wahrheit das Gegenteil waren, suchten gezielt Kontakt zu Kindern und Jugendlichen, die auf der Straße lebten. Quellen belegen laut Studie zudem, dass in Teilen der linksautonomen Hausbesetzerszene in Berlin bis in die 90er Jahre hinein Menschen akzeptiert und geduldet wurden, die sich als pädosexuell verstanden.

Organisierte Strukturen gab es schon vor dem Internet

Wie wichtig Erzählungen von Betroffenen und Zeitzeugen sind, machte die Vorsitzende der Kommission, Sabine Andresen, deutlich. Andresen forderte eine bundesweite Aufarbeitung des Kindesmissbrauchs in pädosexuellen Netzwerken. Diese hätten "zielgerichtet und orientiert" gearbeitet. Es müsse weiter geforscht werden in Organisationen, Behörden, Institutionen. Klar werde durch die Studie auch, dass die Missbrauchstaten von Lügde oder Bergisch Gladbach, die jüngst entdeckt wurden, kein prinzipiell neues System seien. Organisierte Strukturen sexueller Gewalt hätten sich bereits vor dem Internetzeitalter gebildet und über lange Zeiträume halten können.

Die Vorstudie ist für die Kommission Ausgangspunkt, auch eine Aufarbeitung im Bereich der Jugendämter und verschiedener Wissenschaftsbereiche zu fordern. Ein gemeinsamer Austausch dazu soll bei einem Symposium Anfang Juni stattfinden.

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