Finanzpolitik:Die unterschätzte Inflation

Coronavirus in Großbritannien, Eindrücke aus London February 22, 2021, London, United Kingdom: A lady wearing face a mas

Inflation ist eine zutiefst persönliche Erfahrung, viele Menschen bemerken sie auch beim täglichen Einkaufen.

(Foto: May James /imago images/ZUMA Wire)

Die Preise in Europa steigen wieder. Besonders betroffen sind Menschen mit geringen Einkommen. Die EZB steht vor einem Dilemma.

Kommentar von Markus Zydra

Die Menschen haben ein sehr gutes Gespür für die Entwicklung des Preisniveaus. Eine Inflation liegt etwa dann vor, wenn man 15 Dollar bezahlen muss für einen Zehn-Dollar-Haarschnitt, der früher, als man noch Haare hatte, fünf Dollar gekostet hat. So brachte es der frühere US-Baseballspieler Sam Ewing treffend auf den Punkt. Jeder Bürger erlebt beim täglichen Einkauf seinen "Friseur-Moment". Der eine auf dem Wohnungsmarkt, die andere an der Käsetheke, der nächste beim Kauf eines Autos. Inflation ist eine zutiefst persönliche Erfahrung. Viele Konsumenten mit niedrigen Einkommen leiden seit Jahren besonders stark unter steigenden Preisen bei für sie lebenswichtigen Gütern.

Doch sie fanden bislang wenig Gehör für ihre Sorgen, denn die offizielle Inflationsrate der Währungsunion mäanderte zwischen null und ein Prozent. Manchmal kippte sie sogar in den negativen Bereich, sprich, die offiziellen Statistiken legten nahe, dass die Preise im Durchschnitt sanken. Doch dieser akademische Helikopterblick hat mit der Lebenswirklichkeit einer wachsenden Zahl einkommensschwacher Haushalte wenig zu tun. Die gefühlte Inflation ist in vielen Fällen sehr real.

Inzwischen steigt auch die offizielle Inflationsrate, binnen eines Monats kletterte sie in Deutschland von 0,9 Prozent auf nun 1,3 Prozent. Das hat das Statistische Bundesamt am Montagmittag bekannt gegeben. Bundesbankpräsident Jens Weidmann prognostiziert für Deutschland bis Jahresende eine Teuerungsrate von drei Prozent. Führende Wirtschaftswissenschaftler wie der frühere US-Finanzminister Larry Summers sprechen vom größten Inflationsrisiko seit 40 Jahren. Die meisten Menschen können sich kaum mehr erinnern, in den 1980er-Jahren kletterten die Preise in den westlichen Industriestaaten jährlich um zehn Prozent. Damals schlug die Stunde der Notenbanken. Sie erhöhten die Zinsen und verknappten das Geld, um die Überhitzung der Wirtschaft zu stoppen.

Ist es wieder so weit? Sobald der Corona-Lockdown aufgehoben ist, könnten Verbraucher nachholen, was sie in den letzten Monaten verpasst haben: Reisen buchen, Auto kaufen, neue Kleider aussuchen, Essen gehen. Die Notenbanken liefern das billige Geld für die zu erwartende gesamtwirtschaftliche Sause, doch das Angebot könnte in manchen Sektoren schnell knapp werden, weil die Produktion in der Pandemie zurückging. Das ist ein Argument für steigende Preise. Aber ob sich der Preisschub perpetuiert und verstärkt, das weiß niemand. In den letzten zehn Jahren gab es immer wieder Experten, die angesichts der lockeren Geldpolitik vor Inflation und gar Hyperinflation à la Weimarer Republik gewarnt hatten. Doch stattdessen erholte sich die Weltwirtschaft und die offiziell gemessenen Preisveränderungen blieben fast ein Jahrzehnt lang auf sehr niedrigem Niveau.

Sollte aber die Inflationsrate jetzt tatsächlich deutlich anziehen, müsste die EZB ihre lockere Geldpolitik eigentlich beenden. So machten es die Notenbanker in den 1980er-Jahren. Doch mit einer solchen Reaktion kann man in dieser Krise nicht rechnen. Die EZB hat bereits angedeutet, dass sie künftig höhere Inflationsraten als die bislang als Obergrenze geltenden zwei Prozent akzeptieren würde. Der Grund: Die Euro-Staaten sind von den Nullzinsen und den Anleihekäufen der Notenbank abhängig. Nur so können sie ihre riesigen Haushaltsdefizite günstig refinanzieren. Außerdem profitieren die Schuldner von hoher Inflation. Das billige Notenbankgeld wird Europas Wirtschaft deshalb sehr wahrscheinlich noch eine ganze Weile erhalten bleiben.

Die Schere zwischen Arm und Reich geht immer weiter auseinander

Dieser Pragmatismus der Währungshüter ist einerseits nachvollziehbar, denn niemand kann sich ernsthaft einen Staatsbankrott in der Euro-Zone wünschen. Andererseits könnte das Aufweichen der Regeln den Vertrauensverlust der Notenbank vergrößern. Es sind nämlich vor allem die Reichen der Gesellschaft, die von der lockeren Geldpolitik und den dadurch steigenden Preisen für Aktien und Immobilien profitieren. Menschen mit geringen Einkommen fehlt das Kleingeld, um dort zu investieren. Die Rettung der Euro-Zone durch die EZB trägt dazu bei, dass die Schere zwischen Arm und Reich immer weiter auseinandergeht - und dieser Effekt droht sich zu verstärken.

Die offizielle Inflationsmessung unterschlägt, dass Haushalte mit geringen Einkommen in den letzten Jahren besonders stark gelitten haben, weil sie immer höhere Preise für lebensnotwendige Produkte bezahlen mussten. Wenn die EZB nun auch noch erlaubt, dass die offizielle Inflationsrate über Gebühr steigt, wären erneut die Schwächsten der Gesellschaft besonders betroffen. Die Regierungen und die Notenbank dürfen das nicht zulassen.

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