Mitten in der Region:Die Einsamkeit des Benjaminii

Viele sind in diesen Pandemiezeiten schon vergessen worden - so auch die Pflanzen im Büro

Glosse von ALEXANDRA LEUTHNER

Wer ist in dieser Corona-Krise nicht schon alles vergessen worden! Kinder, Einzelhändler, Gastronomen, Künstler, Theater, Kinos, Soloselbstständige, natürlich auch die Eltern, die Alleinerziehenden, die Lehrer. Und jedes Erinnern, jede Erwähnung, jedes Hervorgeholtwerden aus den gesamtgesellschaftlichen Untiefen des pandemiegeplagten Bewusstseins dürfte jedem einzelnen Vergessenen gut getan haben, noch besser natürlich, wenn es mit finanziellen Hilfen verknüpft war. Letztere allerdings - was man so hört - sind bei dem ein oder anderen gar nicht oder nur glücklicherweise eingetroffen, was unverzeihlich ist. An dieser Stelle jedenfalls soll keine Betroffenheit missachtet werden, keine Bedürftigkeit in Zweifel gezogen.

Und doch gibt es eine Gruppe von total Vergessenen. Oder hat in diesen Zeiten auch nur ein einziger Mensch jemals an die Büropflanzen gedacht? Diese stillen Begleiter im alltäglichen Leben vorpandemischer Überstunden? Diese meist namenlosen Statisten trauriger Alltagsdramen und absurder Vorabendkomödien zwischen Laptop, Drucker und Kaffeeküche, selten explizit gewürdigt - aber doch in ihrer hintergründigen Anwesenheit so unerlässlich wie die Kulissen eines in die Jahre gekommenen Theaters. Hat irgendjemand überhaupt eine Vorstellung von der Einsamkeit eines Ficus benjaminii, der schon zu Regelzeiten meist mit den Resten nicht ganz leer getrunkener Wasserflaschen zufrieden sein musste, jetzt aber nicht mal mehr das bekommt? Und auch das Laptop fehlt, das früher stimulierend neben ihm surrte. Wer mag denn überhaupt an die dürren Äste denken, die nur noch Relikte einstiger Lebensformen sind? Vergessen sind sie, fast zumindest.

Unlängst war in einer Online-Konferenz, die seit Monaten das körperliche Aufeinandertreffen von Kollegen ersetzt, schlechte Kunde von einer jener namenlosen Grünpflanzen zu hören. Das letzte Blatt sei gerade abgefallen, hieß es dort, und in der Stimme des zufälligen Bürobesuchers schwang Bedauern mit. Doch jetzt kommt die gute Nachricht: Seit Montag dürfen die Gartencenter wieder öffnen - Benjaminii und seinen Leidensgenossen nützt das zwar nichts mehr, aber Nachschub für die Leerstellen hinter dem Bürotisch steht schon bereit.

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