Vergangenheitsbewältigung:Strittige Perspektive

Zwei Bürger mit Migrationshintergund machen die Nazivergangenheit der Familie einer Buchhändlerin zum Thema. Einige Leser reagieren empört. Eine gelungene Gegenprovokation von ewig Diskriminierten, schreibt einer dagegen.

Vergangenheitsbewältigung: SZ-Illustration: Stefan Dimitrov

SZ-Illustration: Stefan Dimitrov

Zu "Das Erbe" vom 27./28. Februar:

Aufarbeitung missverstanden

Autorin Sonja Zekri berichtet von zwei jungen "Migranten", die "die Aufarbeitung der NS-Zeit mit neuen Fragen bereichern". In dieser Bearbeitung sieht sie nichts Geringeres als eine "Frischluftzufuhr", die für die deutsche "Bewältigungsseligkeit" nur gut sein könne. Worin besteht diese Frischluft? Man erfährt, dass die beiden Aktivisten die Rede vom 'Migrationshintergrund' verwenden, um "Menschen mit Nazihintergrund" und als einen solchen Menschen die Inhaberin eines "queerfeministischen" Buchladens in Berlin auszumachen. Die Herkunft ihres "Kapitals" setze sie, wie zitiert wird, in ein "Kontinuum mit dem NS-Regime". (Wie sich herausstellt, stimmt diese Herkunft des Kapitals nicht.)

Die Buchhändlerin hat sich leider dieser Rechtfertigungsnötigung gebeugt und, wie Zekri schreibt, "auf die Vorhaltungen mit Selbstkritik reagiert". Das Gespräch mit ihr wurde von den Aktivisten nicht gesucht. Selbst Sonja Zekri kommt nicht umhin, einen selbstgefälligen "Tabubrecher-Gestus" und "schlimmes postkoloniales Aktivisten-Deutsch" anzumerken. Sie fährt fort: "Aber eines steht außer Frage: Sie betreten Neuland." Das Neuland besteht offenbar darin, dass die beiden "Menschen mit Migrationshintergrund" einen anderen, "möglicherweise präziseren Begriff ins Spiel bringen, um den Unterschied zwischen Autochthonen und Einwandererkindern zu beschreiben. Flüchtlinge haben keine Nazi-Opas".

Ist der "präzise" moralische und politische Unterschied in Deutschland nun der zwischen Menschen ohne Nazi-Opas und Menschen mit Nazi-Opas? Die Autochthonen, muss man folgern, sind diejenigen mit den Nazi-Opas. Deren "Aufarbeitung der NS-Zeit" kann auch nur ein "Whitewashing" sein, wie die Aktivisten die Rechtfertigung der Buchhändlerin bewerten. Wer diese moralisch selbstgefällig-ignorante Anmaßung als "Neuland" und "Frischluftzufuhr" für eine vermeintliche deutsche "Bewältigungsseligkeit" lobt, hat nicht verstanden, worum es in den schmerzlichen, schwierigen Mühen um die Aufarbeitung der deutschen NS-Vergangenheit ging und geht.

Prof. Dr. Gerhard Kurz, Gießen

Gute Fragen, schlecht umgesetzt

Das Verhalten der beiden, sich als Künstler darstellenden Frau Hilal und Herrn Varatharajah gegenüber Frau Emilia von Senger mit ihrer feministischen Buchhandlung ist diffamierend zu nennen und hat nichts "mit handwerklichen Schwächen" in der Vorgehensweise zu tun. Fragestellungen sind grundsätzlich positiv, aber nicht in dieser anrüchigen Art und Weise. Ich erlaube mir nach gut 30-jähriger intensiver ehrenamtlicher Begleitung von Flüchtlingen die Frage zu stellen, ob im sogenannten Migrationshintergrund von Frau Hilal und Herrn Varatharajah nicht eventuell auch Warlords etc. gegeben sind, was nur eben niemand weiß.

Dass Rassismus im Land vorhanden ist, kann ich als Adoptivmutter farbiger Kinder nur bestätigen, aber möglicherweise habe ich als Enkelin eines Großvaters mit goldenem Parteiabzeichen nach Auffassung von Frau Hilal und Herrn Varatharajah auch nur eingeschränkte Bürgerrechte.

Marita Etzel-Heidbüchel, Bad Homburg

Gelungene Gegenprovokation

Die Autorin bezeichnet M. Hilal und S. Varatharajah, deren Instagram-Video im Zentrum des Artikels steht, gleich im ersten Satz als "Heuschrecken im Reagenzglas". Was haben die beiden getan, um einen derart herabsetzenden Vergleich zu provozieren? Weiter geht es mit der Unterstellung, das Video sei schlecht recherchiert, ein Thekengespräch, unwissenschaftlich, selbstgefällig, ohne roten Faden, im Duktus "schlimmes Aktivistendeutsch".

Ich möchte sagen, dass ich das inkriminierte Video - wie insbesondere auch die beiden vorangegangenen, mit denen es nach meinem Verständnis eine inhaltliche Einheit bildet - für so ziemlich das Hellsichtigste, Eloquenteste und Kurzweiligste halte, was mir zum Thema "Migrationshintergrund" im Bezug zu deutscher Kultur und deutscher Geschichte in letzter Zeit untergekommen ist. Hilal und Varatharajah wird bewusst gewesen sein, dass ihr Konzept der Gegendiffamierung - also der eigenen nie endenden Diffamierung als Menschen mit Migrationshintergrund die Diffamierung von Menschen mit "Nazi-Hintergrund" entgegenzustellen - von vielen als genau die Provokation verstanden werden würde, als die es gedacht ist.

Silvan Linden, Berlin

Diskriminierendes Vorgehen

Einigermaßen fassungslos habe ich den Bericht von Frau Zekri über die Aktion von Moshtari Hilal und Sinthujan Varatharajah gelesen, die der queerfeministischen Buchhandlung "She Said" von Frau von Senger galt. Frau von Senger hat eine Buchhandlung, und sie hat einen Urgroßvater, der möglicherweise den Nazis zugearbeitet hat. Das eine hat mit dem anderen nichts zu tun. Geradezu unverschämt mutet es an, wenn Hilal und Varatharajah für ihre diskriminierenden (Fehl-)Informationen Frau von Senger in Haftung nehmen, statt sich dafür zu entschuldigen und ihre Vorwürfe zurückzunehmen: Frau von Senger hätte eine transparentere Haltung zur Vergangenheit ihrer Familie haben sollen? Wieso wäre das von ihr zu verlangen? Was überhaupt soll das bezwecken? Muss ich meinen Bäcker demnächst fragen, ob sein Urgroßvater Nazi war? Und wenn ja, was dann? Muss er da etwas aufarbeiten, und ich meine Brötchen bis dahin woanders kaufen? Dass "Migranten die Aufarbeitung der NS-Zeit mit neuen Fragen bereichern", erschließt sich mir in keiner Weise.

Karlheinz Bedall, Nürnberg

Erinnerung an 68er-Debatte

Man erinnert sich als 68er an die damaligen teils heftigen Diskussionen im Elternhaus - manche Familie oder Freundschaft drohte daran zu zerbrechen, manche zerbrach tatsächlich. Damals ging es um Fragen nach dem Handeln der Eltern oder väterlicher Freunde, man wollte hören, wie Handeln in der NS-Zeit erklärt wurde - häufig war Schweigen die Antwort. Verstörend ist nun, wie leichthin heute ersichtlich ohne Sachkenntnis Existenzen beschädigt oder gar zerstört werden; elektronische Medien bieten ein riesiges Publikum, dem man seine Unkenntnis oft unwidersprochen darbietet.

Betrachtet man die Gedankenkette von Urgroßvater und Großvater als Generälen in der Wehrmacht bis hin zur Schlussfolgerung, dann könne das Vermögen der (Ur-)Enkelin nur aus inkriminierten Quellen stammen, ernsthaft, dann handelt es sich meines Erachtens strafrechtlich um Verleumdung und zivilrechtlich um Kreditschädigung. Denn das Ergebnis ist ja schon die berichtete Zurückhaltung der Kundschaft.

Klaus Winkler, Freiburg

Missbrauch der Transparenzidee

Es ist gut, wenn sich auch jüngere Deutsche mit Flucht-/Migrationsgeschichte aus ihrer Perspektive mit dem Thema der NS-Vergangenheitsbewältigung beschäftigen. Weniger gut ist es, wenn sie diese Beschäftigung mit vermeintlichem "Transparenz"-Anspruch dazu nutzen, wenn nicht missbrauchen, um Frau von Senger ohne Möglichkeit zur Stellungnahme mit Mutmaßungen und "Fehlinformationen" an den digitalen Pranger zu stellen. Weniger gut ist es auch, wenn Sonja Zekri ob des Vorgangs nur auf "handwerkliche Schwächen" der Anklage plädiert, die dem Anliegen doch "nichts an Dringlichkeit" nehmen würden. An Dringlichkeit vielleicht nicht, an Glaubwürdigkeit allemal.

Jörg Feyer, Hamburg

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