Erasmus-Programm in Corona-Zeiten:Lieber digital in die Gast-Uni als gar nicht

Erasmus-Programm in Corona-Zeiten: Lässiges Campus-Leben in einem anderen Land, viele Kontakte, viele Partys. Davon lebt "Erasmus+", das momentan nur in einer stark modifizierten Form möglich ist.

Lässiges Campus-Leben in einem anderen Land, viele Kontakte, viele Partys. Davon lebt "Erasmus+", das momentan nur in einer stark modifizierten Form möglich ist.

(Foto: Imago)

Die Pandemie hat neue Formen von "Erasmus+" hervorgebracht: Manche Teilnehmer reisen nur virtuell ins Ausland. Andere können fahren, treffen aber Kommilitonen am jeweiligen Ort vorwiegend online.

Von Martina Kind

Seit Januar studiert Nicole Mira aus München an einer Universität im Südosten Frankreichs. Für sie ist es das zweite Auslandssemester über das europäische Austauschprogramm "Erasmus+". Wenn man es so nennen will. Denn ihre französische Gastuniversität hat die Studentin der Linguistik noch nie von innen gesehen. Wenn Nicole ein Seminar besucht, loggt sie sich über die Videoplattform "Zoom" ein, von ihrem Zuhause in München. Und träumt sich nach Frankreich. Das ist gar nicht mal so schwer mit einem Croissant auf dem Teller rechts neben dem Laptop und einem Café au lait links davon, während im Hintergrund französisch gesprochen wird. Ist Nicoles Uni-Tag vorbei, klappt sie den Laptop wieder zu und geht zur Arbeit. So hat sie sich ihr Auslandssemester nicht vorgestellt, aber na ja, wie sagt man in Frankreich: C'est la vie.

Denn das, was Erasmus eigentlich bedeutet - andere europäische Länder und Kulturen kennenzulernen, seine Sprachkenntnisse und interkulturellen Kompetenzen zu stärken, Freundschaften mit Menschen aus aller Welt zu schließen -, das verträgt sich nicht mit einer Pandemie. Erasmus lebt nun einmal auch von Partys, und die finden normalerweise nicht nur in der Orientierungswoche so gut wie jeden Tag statt. Wenn nicht im Club, dann schmeißt halt jemand spontan eine in der WG - das Image des "Party-Semesters" kommt nicht von ungefähr. Fallen diese wegen der Hygiene- und Schutzmaßnahmen aber weg, bleibt nur noch das Semester.

"Blended Mobility" bringt immerhin reale Erfahrungen in einem anderen Land

Wie attraktiv ist der EU-Austausch dann noch für Studenten? "Die Nachfrage ist ungebrochen hoch. Wir beobachten einen enormen Willen zum europäischen Austausch", sagt Stephan Geifes, Direktor der Nationalen Agentur für EU-Hochschulzusammenarbeit im DAAD. Fragt man bei den Hochschulen nach, die den Erasmus-Austausch koordinieren, bekommt man konkrete Zahlen. An der Universität Hamburg zum Beispiel lief die Bewerbungsfrist für das akademische Jahr 2021/22 im Januar aus. Eingegangen sind 701 Bewerbungen. Im Vergleich zum Vorjahr seien die Zahlen nicht zurückgegangen, sondern im Gegenteil leicht gestiegen, konstatiert die Sprecherin des Hochschulpräsidenten, Claudia Sewig. "Das zeigt, dass die Beliebtheit des "Erasmus+"-Programms durch die Pandemie keinen Rückgang erlebt hat." Was es noch zeigt: Die Hoffnung, dass sich die Situation entspannen wird und man im Wintersemester 2021/22 problemlos in das jeweilige Gastland einreisen darf, ist groß.

In dieser Hinsicht hatte Sarah Baumann, die Rechtswissenschaft an der Humboldt-Universität Berlin studiert, Glück - oder, je nach Auslegung, Pech. Auch sie hat gerade ihr Erasmus-Semester begonnen. Im Gegensatz zu Nicole Mira ist sie nicht in Deutschland geblieben, sondern nach Dänemark gefahren. Am 3. Januar kam sie in Kopenhagen an, gerade einmal fünf Tage später, am 8. Januar, hat die dänische Regierung ein Einreiseverbot für Austauschstudenten erlassen. Die 23-Jährige ist froh darüber, "noch ins Land gekommen zu sein". Viele ihrer Erasmus-Kommilitonen hätten zurückbleiben müssen. Allerdings ist die Uni Kopenhagen weitgehend dicht, auf den Campus dürfen nur Studenten, die eine Prüfung schreiben oder Kurse besuchen, die virtuell nicht stattfinden können. Ob sich daran schnell etwas ändern wird, ist fraglich. Das heißt, Sarah verbringt die meiste Zeit ihres Studiums in ihrer Wohnung vor dem Bildschirm. "Aber man ist ja trotzdem in einem anderen Land und entdeckt jeden Tag etwas Neues." Auch sei es ihre letzte Chance auf einen Auslandsaufenthalt gewesen, und die habe sie nutzen wollen, denn danach stehe das Staatsexamen an. Und da ist natürlich Dauer-Lernen angesagt.

Was Sarah in Kopenhagen macht, nennt sich "Blended Mobility", also der physische Aufenthalt im europäischen Gastland mit zumeist digitalem Studium und - wo es möglich ist - Kontaktunterricht. Dazu rät auch Stephan Geifes vom DAAD allen Erasmus-Studenten, die vor der Entscheidung stehen: gehen oder bleiben? Das gelte selbstverständlich nicht für die Länder und Regionen, die das Robert-Koch-Institut als Risikogebiet eingestuft oder für die das Auswärtige Amt eine Reisewarnung ausgerufen hat. "Von einer Einreise in Risikogebiete raten wir entschieden ab. Auch im "Erasmus+"-Programm haben Gesundheit und Sicherheit oberste Priorität."

Für Reisen in Risikogebiete gewährt das Austauschprogramm keine finanzielle Förderung

Einige deutsche Universitäten haben daher entschieden, die Mobilität der Studenten, die aller Warnungen zum Trotz in ein von dem Coronavirus gebeuteltes Land einreisen, nicht zu fördern. "Bei einem Aufenthalt in einem Risikogebiet ist von einer besonders hohen Infektionsgefahr, auch für Studenten, auszugehen. Dabei ist zu bedenken, dass viele Gesundheitssysteme durch die Pandemie überlastet sind", erklärt Claudia Sewig von der Uni Hamburg. Es sei gesellschaftlich unverantwortlich, ihnen potenziell weitere Belastungen zuzumuten. "Darüber hinaus sind wir alle zur Bekämpfung der Pandemie aufgefordert, indem wir Kontakte auf ein Minimum reduzieren; das Verzichten auf Reisen gehört dazu. Aus diesen Gründen werden im Rahmen der universitären Austauschprogramme keine Reisen in Risikogebiete gefördert." Benjamin Gehring, Leiter des Akademischen Auslandsamts an der Universität Hohenheim, ergänzt: "Studenten reisen auf eigene Gefahr. Es wird wohl keine Rückholaktionen mehr geben wie im Frühjahr 2020, weder vom Staat noch von den Universitäten, das muss ihnen klar sein."

Der Kompromiss: Studenten beginnen, sofern die Online-Lehre gewährleistet werden kann, ihren Austausch im Heimatland und setzen ihn später, sobald möglich, im Gastland fort - eine weitere Variante von "Blended Mobility". Zu beachten ist dabei, dass die Teilnehmer den monatlichen Zuschuss ihres Stipendiums erst mit Beginn ihrer physischen Anwesenheit im Zielland bekommen. Überhaupt von der EU-Kommission gefördert werden solche "Blended-Mobility"-Aufenthalte erst seit dem Wintersemester 2020/21. Unabhängig von der Pandemie hat diese das Budget des Programms "Erasmus+" um 6,3 Millionen auf nunmehr rund 150 Millionen Euro angehoben. Bis 2013 war "Erasmus" das Hochschulmobilitäts- und Bildungsprogramm der EU, neben anderen Mobilitäts- und Bildungsprogrammen im Bereich Schule, Berufliche Bildung, Jugend. 2014 wurden alle Programme unter dem Titel "Erasmus+" zusammengefasst. Das Budget für das gesamte "Erasmus+"-Programm, also für alle Bildungsbereiche in ganz Europa, lag im Jahr 2020 bei 3,78 Milliarden Euro.

Wirklich groß ist die Resonanz der deutschen Austausch-Studenten auf eine virtuelle oder hybride Alternative nicht, stellt Stephan Geifes fest. "Wohl aber gibt es eine wachsende Bereitschaft, zunächst online anzufangen, um später doch noch ausreisen zu können." Dass die Begeisterung ausbaufähig ist, manifestiert sich in den Zahlen. So werden an der Ludwig-Maximilians-Universität (LMU) München in diesem Sommersemester 199 Studenten ihren Erasmus-Austausch antreten, davon haben sich 32 für die Mischform entschieden, nur neun für das reine Online-Studium ("Virtual Mobility"), der Rest wird in dem gewählten Land studieren, weiß Claudia Wernthaler, Auslandsstudienberaterin an der LMU. Tendenziell seien es eher die Masterstudenten, die sich für die "Virtual Mobility" entscheiden. "Die haben ein ausgeprägtes fachliches Interesse. Denen geht es nicht mehr um Partys, sondern wirklich um das Studium", erklärt Gehring von der Uni Hohenheim.

Mit dem DAAD ins Ausland

Nicht nur mit dem EU-Austauschprogramm "Erasmus+" können junge Menschen bei ihrem Auslandsstudium oder -praktikum finanziell unterstützt werden. Weltweit größter Förderer des internationalen Austausches von Studenten und Forschenden ist der Deutsche Akademische Auslandsdienst (DAAD). Er vergibt Stipendien an Studierende, Absolventen, Doktoranden und Promovierte aller Fachrichtungen. Voraussetzung ist, dass Bewerber mit deutscher Staatsangehörigkeit an staatlich anerkannten Hochschulen eingeschrieben sind und mindestens im zweiten Semester sind. Anders als bei dem EU-Förderprogramm "Erasmus+" müssen DAAD-Stipendiaten ein mehrstufiges Auswahlverfahren durchlaufen. Voraussetzungen für ein Auslandsstipendium sind unter anderem überdurchschnittliche Studienleistungen und gute sprach- und landeskundliche Kenntnisse.

Wer sich in der aktuellen Situation um ein Stipendium bewerben will oder bereits eine Zusage hat, sollte sich laut DAAD gut überlegen, ob, wann und wie ein Stipendienbeginn möglich ist. Der DAAD bietet in fast allen Programmen flexible Lösungen an: Stipendiaten können die Ausreise verschieben, ihr Stipendium von Deutschland aus online antreten, wenn ihre ausgewählte Gasthochschule virtuelle Studien- oder Forschungsformate anbietet, oder sie können nach Rücksprache mit dem DAAD das Stipendium in ein anderes Zielland verlegen. Kima

Doch wie planbar ist die "Blended Mobility" überhaupt? Schließlich braucht man eine Unterkunft im Ausland - und die Suche kann je nach Land schon unter normalen Umständen bisweilen durchaus mühsam sein. Erschwert wird sie noch dadurch, dass man nicht genau wissen kann, ab wann man sie braucht. "Hier erhalten die Studenten Hilfestellung von den Partneruniversitäten, aber natürlich gibt es keine Garantie. Und es ist auch Eigeninitiative gefragt", betont Wernthaler. Da aber derzeit nicht so viele Erasmus-Studenten unterwegs seien wie sonst, sei die Lage auf dem Wohnungsmarkt an sich wahrscheinlich ein wenig entspannter.

Interkulturelle Kompetenz kann man auch online erwerben, finden manche Fachleute

Natürlich könnten beide Modelle nicht das Gleiche leisten wie die Auslandserfahrung am Ort, sagt Geifes. "Aber wir leben nun mal in diesen Zeiten, und das Verhältnis des digitalen und analogen Studiums wird sich im Privaten wie im Akademischen und Beruflichen neu justieren." Statt sich bei Willkommen-Partys oder internationalen Kochabenden kennenzulernen, müssen sich die Studenten wohl vorerst mit einem virtuellen "Speed-Friending" begnügen. Wie es auch bei der Erasmus-Studentin Lara Fuge der Fall war, die an der Universität Flensburg "European Cultures and Society" studiert und im vergangenen September nach Brünn gegangen ist. Ganz habe sie aber nicht auf persönliche Treffen verzichten müssen. "Ausgiebige Spaziergänge mit Schutzmaske sind ja Corona-konform."

Ein rein digitales Auslandssemester hat durchaus Vorteile. Zum einen werden die Monate, die die Studenten zu Hause verbringen - und das gilt genauso für die Mischform - nicht zu der maximalen Förderdauer pro Studienabschnitt gerechnet. Bachelor-, Master- und Promotionsstudenten dürfen in der Regel maximal zwölf Monate während ihres Studiums über "Erasmus+" ins Ausland, zum Beispiel einmal für ein halbes Jahr im dritten Bachelor-Semester, das andere Mal wieder für die verbleibenden sechs Monate im fünften Semester. Bleiben die "Blended Mobility"-Befürworter etwa die ersten beiden Monate ihres sechsmonatigen Aufenthalts in Deutschland und verbringen die restlichen vier im Gastland, dann haben sie statt der regulären sechs noch acht Monate ihres Erasmus-Kontingents übrig, die sie zu einem späteren Zeitpunkt womöglich für eine Auslandserfahrung ohne krisenbedingte Einschränkungen nutzen können.

Geifes sieht zudem bessere Chancen auf dem Arbeitsmarkt: "Neben Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit spielen zwei Aspekte bei der Karriere eine immer wichtigere Rolle." Einerseits zählten digitale Kompetenzen künftig verstärkt zum Anforderungsprofil von Bewerbern, anderseits seien Veränderungsbereitschaft, verbunden mit Offenheit, interkultureller Kompetenz und Lernfähigkeit, in der Berufswelt immer wichtiger. "In virtuellen Vorlesungen und Seminaren können Studenten von jedem Ort der Welt aus fremdsprachliche, interkulturelle sowie internationale Erfahrungen sammeln. Online lernen sie ebenfalls die andere Wissenschaftskultur, andere Curricula und andere Lehr- wie Lernmethoden kennen." Und überhaupt - was sei die Alternative? "Man kann natürlich auch nichts tun und zu Hause weiter online an seiner deutschen Hochschule studieren. Das wird im Lebenslauf aber nicht besonders hervorstechen."

Nicole Mira bereut ihre Entscheidung, zu Hause geblieben zu sein, nicht. Ihre Studienordnung hat das Auslandssemester vorgeschrieben, Ende März wird sie auch diese Leistung abgeschlossen haben - trotz Corona. Da sie schon einen Erasmus-Austausch in Frankreich hinter sich habe, sei sie über das geplatzte Abenteuer nicht allzu traurig. Den Studenten, denen diese Erfahrung wegen der Pandemie aber weitgehend verwehrt bleibt, will sie trotzdem raten: "Wenn ihr könnt, holt es nach." Denn irgendwann werden ja auch die Erasmus-Partys wieder möglich sein.

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