Streit beim Thomanerchor Leipzig:Krieg der Frösche

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Diese Jungs wollen mitreden: der Thomanerchor, hier bei einem Auftritt in seinem Stammhaus, der Leipziger Thomaskirche. (Foto: Jan Woitas/picture alliance)

Die älteren Jahrgänge des altehrwürdigen Thomanerchores proben derzeit den Aufstand gegen ihren neuen Chef. Das gab es in der 800-jährigen Geschichte des Chores noch nie.

Von Helmut Mauró

Mit einem Brandbrief an Zeitungsredaktionen haben sich am Freitag Sänger des Thomanerchores gegen die Berufung ihres neuen Leiters gewehrt. Nach dem Votum der Stadt Leipzig soll Andreas Reize, bisher Chef der eher unbekannten Solothurner Singknaben, neuer Thomaskantor werden. Die Thomasser favorisieren den Leiter des Leipziger Universitätschores, David Timm.

Der Thomanerchor besteht seit 1212 und ist einer der ältesten Knabenchöre. Er kann mit einer Reihe berühmter Kantoren aufwarten, darunter Johann Sebastian Bach. Nicht zuletzt wegen dieses prominenten Vorgängers strahlt das Amt über Leipzig hinaus, und nicht erst seit heute ist die Berufung des Kantors ein Politikum. Damals war Bach nicht der vorrangige Kandidat, entpuppte sich aber im Nachhinein als beste Wahl. Heute könnte es umgekehrt sein.

Das einstimmige Votum der Auswahl- und Entscheidungskommission für den 45-jährigen Reize könnte sich als problematisch erweisen, wenn zutrifft, was die oberen drei Klassen des Thomanerchores behaupten: dass Reize die fachliche Kompetenz fehle. Andererseits hat eine Expertenkommission alle Kandidaten angehört, wenn auch nur an zwei Probentagen, normalerweise dauert das länger, und dann Reize einstimmig vorgeschlagen. Der Stadtrat hat das Ergebnis im Januar abgesegnet.

In langen Bittbriefen - an den Oberbürgermeister Burkhard Jung (SPD), die Kulturbürgermeisterin Skadi Jennicke (Die Linke) und die Kommissionsmitglieder im Juli letzten Jahres, an den Sänger und Stimmbildner Martin Petzold im November, an den Oberbürgermeister im Dezember - haben die Choristen, die sich selber "Thomasser" nennen, ihr Anliegen begründet. Dass sie nun zum vierten Mal schreiben, diesmal an die Öffentlichkeit gerichtet, zeigt einen hohen Grad an Verzweiflung. Dabei ist es nicht entscheidend, ob sie nun für den gesamten Chor sprechen oder nur für die älteren Schüler, wie ihre Gegner behaupten.

Welche Pädagogik wird hier offenbar?

Und da wird es in der Tat ein bisschen gruselig. Wenn man die unverhohlene Aggression Erwachsener auf die Chorknaben im Netz liest, erschrickt man. Insbesondere Samuel Seifert, ein Geigenlehrer der Thomasschüler, beschuldigt Akteure im Hintergrund, "persönliche Enttäuschungen auf den Rücken der Chorknaben auszutragen". Letztere "werden ihre Lektion in Demokratie lernen", glaubt er. Aber welche Vorstellung von Pädagogik wird hier offenbar? Ist es denn undemokratisch, sich gegen ein Votum zu stellen, an dem man nicht mitstimmen durfte, das einen aber persönlich betrifft? Sollte repräsentative Demokratie nicht eher für die zu Vertretenden stimmen als über sie?

Man hat unter Kantor Georg Christoph Biller und dem derzeitigen Thomaskantor Gotthold Schwarz, der den Chor in schwierigen Zeiten immer wieder gerettet hat, so vieles modernisiert in den Abläufen und Strukturen, hat das Internatsgebäude komplett umgebaut, mehr Frauen in führende Positionen geholt und auch als Erzieherinnen eingesetzt, hat einen von außen einsehbaren Probensaal gebaut und alles getan, so schien es, um einer alten Traditionseinrichtung den Ruch der Antiquiertheit zu nehmen. Und dann sagt man den Kindern, sie müssten erst mal Demokratie lernen - und meint: gehorchen? Die Choristen sind in denkbar schwacher Position. Viele von ihnen scheiden im Sommer aus, und man nimmt ihnen offenbar nicht ab, dass sie vor allem zum Wohl der Institution Thomanerchor agieren.

Die Vorwürfe sind haltlos, findet Martin Petzold, seit 26 Jahren Stimmbildner der Thomasser. Er war Mitglied der Expertenkommission und sollte die Meinung der Chorsänger an die Auswahlkommission weiterleiten. Es sei keine substanzielle Kritik gekommen, sagt Petzold, aber tatsächlich sei auch er zunächst für Timm gewesen. "Aber dann kam Reize - und siegte. Er kann alle Stimmlagen vorsingen, er ist ein sportlich durchtrainierter Triathlon-Kämpfer, an dem sich die Jungen ja auch messen können, der hat so viele Qualitäten. Wir waren alle glücklich mit ihm."

Manche sehen eine große Intrige im Gange

Über den derzeitigen 68-jährigen Thomaskantor Schwarz sagt Petzold: "Wir haben als Expertenkommission gespürt, dass der derzeitige Kantor nicht kooperativ war und seinen Vertrag verlängert haben wollte. Er sollte geeignete Stücke vorschlagen. Es gab da großen Widerstand." Der Favorit der Thomasser, David Timm, steht seiner Ansicht nach nicht dahinter, aber es gebe wohl "Thomaner, die meinen, sie könnten ihn durch eine Intrige ins Amt bringen". Dahinter stehe auch Schwarz. "Das ist nicht gut für das ganze Arbeitsklima. Druck und Angst gab es nicht, das ist aus der Luft gegriffen. Das ist auf jeden Fall von außen gesteuert." Schwarz, das sagen auch andere, hat sich nicht nur große Verdienste erworben um den Chor, er hat sich bei den Entscheidungsträgern in Stadt und Gewandhaus auch unbeliebt gemacht mit seinen Forderungen, etwa nach einem Alte-Musik-Orchester. Die Verbindung Thomanerchor und Gewandhausorchester ist fest geregelt, und die Gewandhausmusiker entscheiden mit über die Berufung des Thomaskantors.

Aber worum geht es wirklich? Geht es darum, die unter dem regelmäßig unpässlichen Vorvorgänger Biller möglicherweise nicht streng genug geführte Hierarchie wieder sichtbar herzustellen? Der vor zwei Jahren berufene Geschäftsführer der Thomaner, Emanuel Scobel, sagt: "Was wir nicht erkannt haben, waren Signale, die es gegeben haben soll." Man müsse reden, "dass sich nicht unerfüllbare Erwartungen aufstauen. So ein Kantorenwechsel ist immer mit Emotionen behaftet, aber das müssen wir intern klären. Vielleicht muss sich in den Kommunikationsstrukturen wirklich etwas ändern".

"Wenn man die Frösche fragt, ob man den Teich austrocknen soll, fragt man die Falschen."

Geändert hat man das Auswahlverfahren. Beim letzten Mal waren die Proben und Konzerte mit den Kandidaten öffentlich, jeder konnte sich ein Urteil bilden, und am Ende wurde kein Gewinner ermittelt. "Das letzte Auswahlverfahren war ja ein ziemliches Desaster", lautet zum Beispiel das Fazit von Christian Schulze, SPD-Stadtrat und Mitglied der Auswahlkommission. "So etwas wollten wir nicht noch mal erleben." Diesmal sei von vornherein gesagt worden, dass nicht jeder mitbestimmen könne. "Es wurde klar gesagt: Wir werden nicht jeden Thomaner fragen. Es ist doch so: Wenn man die Frösche fragt, ob man den Teich austrocknen soll, fragt man die Falschen." Die jetzige Reaktion bestätige ihm, dass man die Thomaner in der Kantorenfrage zwar beteiligen sollte, "aber mit der Entscheidung sind sie offensichtlich überfordert".

Aber wenn man den Teich erhalten will? Dann muss man vielleicht doch die Frösche fragen. Manchmal trägt auch ein ergebnisloses Verfahren Früchte. Der ehemalige Thomasser und Gesangssolist Gotthold Schwarz half damals aus, und aus dem künstlerischen Interregnum wurde ein glanzvoller Abschnitt in der Geschichte des Chores. Der klingt so lebendig, musikalisch, selbstsicher wie lange nicht.

Dennoch, ein Stimmrecht haben die Sänger nicht. Im Gegensatz zu den begleitenden Musikern des Gewandhausorchesters. Da greifen alte Traditionen. Aber auch die gilt es zu hinterfragen. Seit 50 Jahren spielt man Bach fast überall auf historischen Instrumenten. Nur nicht in Leipzig, wo die barocke Musik Bachs doch besonders authentisch klingen sollte. Dafür fährt man hin und wieder, gerne, nach Leipzig.

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