"Now and Then" von Paul Stanley:"Perfektion kann niemals echte Leidenschaft ersetzen"

Kiss Play The Forum in London

Zungen-Kiss? Paul Stanley hat ein Soul-Album veröffentlicht.

(Foto: Jim Dyson/Getty Images)

Paul Stanley hat mit "Kiss" Rock- und Schminkgeschichte geschrieben. Höchste Zeit mit ihm nur über - genau: Soulmusik zu sprechen.

Interview von Joachim Hentschel

Man kennt ihn als Brüllhals und Rock'n'Roll-Tier, als maskierten Stadionbühnenstar nach ganz altem Zuschnitt: Paul Stanley, 69, eigentlich Stanley Eisen, gründete 1973 in New York mit Gene Simmons die Band Kiss - und wurde als Sänger, Gitarrist und Autor von Hits wie "I Was Made For Lovin' You" oder "Detroit Rock City" unter anderem Mitglied der Rock'n'Roll Hall of Fame.

Nun hat Stanley - während die Kiss-Abschiedstour pausiert - mit seiner neuen Gruppe Paul Stanley's Soul Station ein Album veröffentlicht. Auf "Now and Then" interpretiert er 60er- und 70er-Soulklassiker von den Temptations, Al Green, den Stylistics und Delfonics, werkgetreu und erstaunlich kompetent. Ein Gespräch über die Spannung zwischen Leidenschaft und Hörerwartung.

SZ: Mr. Stanley, mit Ihrem neuen Projekt positionieren Sie sich als herzenstiefer Soul-Fan, in den vergangenen 50 Jahren haben wir Sie jedoch praktisch nur als Rocker erlebt. Wie konnten Sie die Leidenschaft so lange zügeln?

Paul Stanley: Sagen wir so: Künstler schaffen es selten, alle Facetten öffentlich zu zeigen, die in ihnen stecken. Ich habe immer schon Soul gesungen, Motown-Stücke, Philadelphia Sound, aber die meisten assoziieren mich eben eindimensional mit dem, was sie von Kiss kennen. Wobei auch da diverse Inspirationen zusammenkamen. Dieser Frage-Antwort-Gesang im Song "Shout It Out Loud" zum Beispiel, das ist Soul. Oder "I Was Made For Lovin' You": ein klares Zitat aus "Standing In The Shadows Of Love" von den Four Tops. Haben viele bloß nicht gemerkt.

Die Anspielungen waren allerdings auch sehr subtil. Warum jetzt diese unmissverständliche Soulplatte?

Weil ich Kiss nun mal viele Jahrzehnte lang den allergrößten Teil meiner Zeit, meiner Energie gewidmet habe. Aber das Leben geht irgendwann zu Ende, eines Tages realisiert man das. Und es gibt eben noch ein paar andere Sachen, die ich machen will, bevor es zu spät ist.

Bei Kiss galt früher ja ausgerechnet der eher ungeliebte Schlagzeuger Peter Criss als Soulman. Ihren bis heute größten Hit in den USA, die Soulballade "Beth" von 1976, sang er. Das muss Sie doch gewurmt haben.

Überhaupt nicht. Weil ich nicht scharf darauf gewesen wäre, als der Soulman zu gelten. Ich war ja auch nie ein Rocksänger. Ich bin ein Sänger, der auch Rock singt. Bitte genau hinhören.

Detroit, Philadelphia und Memphis sind die Städte, die am nächsten mit der Entwicklung des Soul assoziiert werden. Ihre Heimat New York nicht unbedingt. Warum nicht?

Schwer zu sagen. Allerdings spielt Herkunft hier ohnehin keine große Rolle, denn Soul ist im wörtlichsten Sinn Weltmusik. Am Anfang war er zwar tief in der Black Community der USA verwurzelt, aber von dort aus kam er in jedes Land der Erde, berührte Menschen, entwickelte universelle Macht. Die Keimzelle des Soul liegt zwar nicht in New York, aber diesen New Yorker Jungen, den Sie vor sich sehen - den hat er tief getroffen.

Sie sind in einem jüdischen Elternhaus groß geworden, Ihre Mutter kam aus Deutschland, Ihr Vater aus Polen. Welche Musik lief bei Ihnen zu Hause?

Beethovens "5. Klavierkonzert", Mozart, Mahler und Schumann, das NBC Orchestra, dirigiert von Arturo Toscanini. Musik spielte für meine Eltern eine ähnliche Rolle wie die täglichen Mahlzeiten, sie liebten Klassik, Oper, Folk. Und ich lief mit meinem kleinen Transistorradio die Straße entlang, hörte zum ersten Mal Smokey Robinson und dachte: Wow, das rumpelt zwar ganz schön, aber es hat so viel Feuer.

Als Robinson auftauchte, waren Sie zehn.

Ja, und durch ihn habe ich gleich eine der wichtigsten Lektionen gelernt: Perfektion kann niemals echte Leidenschaft ersetzen. Ich konnte das den Großen direkt abschauen, ich sah Konzerte von Solomon Burke, den Temptations, Otis Redding. Otis trat im Sommer 1966 im Central Park auf, ein Jahr vor seinem Tod. Ich werde es nie vergessen.

Zusätzlich zu den Cover-Songs haben Sie für die neue Band fünf Stücke selbst geschrieben, im klassischen Soulidiom. Solche manieristischen Experimente betrieben Sie schon bei Kiss: "Hard Luck Woman" konzipierten Sie als Rod-Stewart-Song, "I Was Made For Lovin' You" war Ihre Disco-Pastiche. Welches Talent braucht man hierfür?

Nun ja, was denken Sie? Ich bin Songwriter, das ist in mancher Hinsicht auch ein Handwerksberuf, man lernt, wie bestimmte Genres funktionieren. Allerdings geht man in solchen Fällen nicht her und sagt: "Ich schreibe jetzt mal was im Stil von X oder Y." Man taucht viel mehr in die Musik ein, versetzt sich in sie hinein, dann kommt das von allein. Es ist mehr Liebe als Kalkül.

Kiss stecken derzeit mitten in ihrer vorübergehend gestoppten Abschiedstour. Ist das am Ende der Zweck von Soul Station? Ihre Rentnerband für die Herbstjahre?

Das muss ich kurz klarstellen: Kiss kann man nicht so einfach auflösen. Die Band ist Teil der Popkultur und gehört zum Leben von Millionen Menschen. Dass ich als 80- oder 90-Jähriger nicht mehr jeden Abend mit 20 Kilo Ausrüstung über die Bühne rennen kann, ist eine andere Sache. Aber auch wenn Kiss nicht mehr live auftreten, will ich weiter Kontakt zum Publikum haben. Auch das ist in der Tat ein Gedanke, der bei Soul Station mitspielt.

Sie sind für Ihre extraschrill gebrüllten Bühnenansagen berüchtigt. Werden wir die denn weiter hören?

Nein, im Soulkonzert wäre das völlig unangebracht und bizarr. Bei Kiss haben wir immer alles auf zehn gedreht und dann noch ein bisschen weiter. Bei Soul Station wird eher der Plauderton regieren. Und ganz ehrlich: Die Zeit ist reif dafür.

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