Leichtathletik:Souverän auf der Vorderbühne

DLV-Präsident Jürgen Kessing

Seit 2017 Präsident des Deutschen Leichtathletik-Verbands: Jürgen Kessing, 64.

(Foto: Michael Kappeler/dpa)

Die deutschen Leichtathleten freuen sich über ein klares Votum für ihren alten, neuen Präsidenten und eine stabile Wirtschaftslage - dem Verband bleiben aber auch so genügend Herausforderungen.

Von Johannes Knuth, München

Plötzlich hatte Jürgen Kessing doch noch einen Gegner: die Technik! Die Abstimmung lief bereits, die Kessing recht entspannt verfolgen konnte als einziger Bewerber um das Präsidentenamt im Deutschen Leichtathletik-Verband (DLV). Dann erreichte ihn, offenbar zeitversetzt, eine Frage aus dem Kreis der Delegierten, die digital zugeschaltet waren: Ob Kessing noch mal seine Pläne ausrollen könne, für seine zweite Amtszeit? Der 64-Jährige knüpfte spontan ein paar Schlagworte aneinander, ehe sich im Plenum Protest regte: Während einer Abstimmung dürfe man doch keine Fragen mehr beantworten!

Doch das Schiedsgericht parierte den Einwand. Alle Delegierten, hieß es, hätten auch nach Kessings Kurzreferat noch ihre Stimme ändern können, alles regelkonform also. Puh! Kurz darauf bedankte sich der alte, neue Amtsinhaber für ein "überwältigendes Votum": 147 von 163 Delegierten hatten ihm den Segen erteilt, rund 90 Prozent.

Es fiel Kessing am Wochenende nicht gerade schwer, souverän durch den 49. Verbandstag des DLV zu leiten, zumindest auf der Vorderbühne. Die Kooperation mit den Landesverbänden habe sich "deutlich" verbessert, bilanzierte er - ein kleiner Gruß an Vorgänger Clemens Prokop. Ansonsten habe er eingelöst, was er bei seinem Antritt vor vier Jahren versprochen hatte: das Bewährte bewahren. TV-Partner und Sponsoren etwa, auch wirtschaftlich käme man "gut über die Runden". Keine Spur von Existenzängsten wie in anderen Verbänden; für das aktuelle Jahr erwarte man ein Minus von 200 000 Euro, für 2020 sogar einen Gewinn von 500 000 Euro. Jochen Schweitzer, seit vier Jahren Vizepräsident im Ressort Wirtschaft/Finanzen, begründete das mit ausgefallenen Meisterschaften, weniger Dienstreisen und schärferen Controlling-Werkzeugen, mit denen man die Kostenströme mittlerweile besser überwachen könne (was freilich impliziert, dass das vorher nicht immer so war). Der Erdinger Schweitzer, 39, ist mittlerweile nicht nur national, sondern auch international auffallend gut vernetzt - am Wochenende wurde er mit nur einer Gegenstimme im Amt bestätigt.

Alles in allem stellte Kessing seinem Präsidium ein "sehr erfolgreiches" Prädikat aus - auch wenn sich im Verband Stimmen halten, die sich vom Oberbürgermeister von Bietigheim-Bissingen noch ein wenig mehr Engagement wünschen. An der digitalen Wahlurne schlug sich das aber nicht nieder, da schnitt Kessing sogar um zwei Prozentpunkte besser ab als vor vier Jahren.

Die Hauptamtlichen haben im Verband jetzt noch mehr Einfluss - langweilig wird ihnen so oder so nicht werden

Kessing schadet es wohl auch nicht, dass sein Verband jetzt einen nicht unerheblichen Kurswechsel besiegelte. Künftig lenkt ein dreiköpfiger, hauptamtlicher Vorstand die Geschäfte, dem Präsidenten fällt da eher eine zeremonielle Rolle zu. Seine Vizepräsidenten fungieren dann vor allem als Aufsichtsräte, statt etwa selbst Haushaltspläne aufzustellen. Statt des Verbandstags, der alle vier Jahre rund 170 Delegierte versammelte, tagt nun eine Mitgliederversammlung zwei Mal im Jahr, mit ehrenamtlichen Präsidium, Vorstand und je zwei Vertretern aus 20 Landesverbänden. Eine schlankere, professionellere Struktur also, die vielerorts Usus ist, vielerorts aber halt auch nicht - die deutschen Schwimmer können womöglich einiges davon erzählen.

Langweilig wird es den neuen Gremien so oder so nicht. Allein Hartmut Grothkopp, am Wochenende als Vizepräsident des Ressorts Leistungssport bestätigt, sprach von einem "enormen Feld an Aufgaben": Trainingslager und Wettkämpfe, die vor den Tokio-Spielen immer wieder ins Wackeln geraten, oder die prekäre Situation der Trainer, für die man sich um bessere Verträge bemühen wolle. Manche Probleme waren zuletzt allerdings auch hausgemacht: Alexander Stolpe, im Sommer 2019 als neuer Chef-Bundestrainer vereidigt, war den Posten ein halbes Jahr später wieder los.

Und sonst? Kessing räumte ein, dass die Leichtathletik im Schulsport "an Boden verloren" habe, auch die DLV-Mitgliederzahlen sanken zuletzt um 17 000 auf 798 000 - bei seinem Amtsantritt hatte Kessing noch die Eine-Millionen-Marke angepeilt. Mara Konjer, die neue Vizepräsidentin im frisch geschaffenen Ressort Sportentwicklung, habilitiert an der Universität Münster passenderweise auch zu manch drängendem Thema, wie Mitgliederentwicklung und Schulsport.

Man wolle sich auch, so Kessing, nach der EM im kommenden Jahr in München wieder um Großveranstaltungen bemühen. Eine vollwertige WM ist dem Vernehmen nach aber fürs Erste kein Thema, schon eher eine Halbmarathon-WM oder eine Nachwuchs-EM, für jene Zielgruppe also, in der sie im DLV nach wie vor viele Begabungen verlieren. Und noch eine Baustelle: Seit Helmut Digels Abtritt vor sechs Jahren stellt der DLV im Council des Weltverbands keinen Vertreter, Kessing war vor zwei Jahren mit seiner Bewerbung klar gescheitert. Demnächst wird er es wohl im Rat des Europaverbandes EAA probieren, dort, wo der kürzlich verstorbene Frank Hensel über Jahre eine starke deutsche Präsenz war.

Kessing rückte am Wochenende aber erst mal noch das nahende Großevent in den Fokus: Er setzte einen "kräftigen Appell" an die Politik ab, die deutschen Olympiakandidaten für die Spiele in Tokio bald zu impfen - sonst werde deren Vorbereitung noch empfindlicher gestört als ohnehin.

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